Die Politik des billigen Geldes verfängt immer weniger, selbst die Notenbanker gestehen dies inzwischen ein. Jetzt soll es die Fiskalpolitik richten. In Deutschland wird sogar die Schuldenbremse infrage gestellt. Finanzexperte Michael Reuss* über die aktuelle Lage auf dem Finanzsektor.
Als Anfang Juli bekannt wurde, dass Christine Lagarde neue EZB-Chefin und damit Nachfolgerin von Mario Draghi wird, knallten in den südeuropäischen Ländern die Sektkorken. Binnen weniger Sekunden sanken die Renditen zehnjähriger italienischer Staatsanleihen um einen zehntel Prozentpunkt. Bei spanischen Anleihen war der Abschlag ähnlich und auch in Griechenland gingen die Zinsen, die das Land bezahlen muss, zurück. Das Signal der Märkte war eindeutig: Mit der 63-jährigen Französin dürfte die ultralockere Geldpolitik der Draghi-Ära fortgeführt und eventuell sogar noch ausgeweitet werden.
Dennoch hat die EZB ein riesiges Problem: Die Wirtschaft im Euroraum kommt nicht in Schwung, das Wachstum beträgt gerade mal 1,2 Prozent. Vor allem aber verharrt die Inflationsrate seit Jahren weit unter der Zielmarke von 2,0 Prozent. Immer offensichtlicher wird, dass die Notenbanken mit ihrer Politik des billigen Geldes an ihre Grenzen stoßen. Eine höhere Geldentwertung wäre aber wichtig: Eine höhere Inflation würde die zum Teil enormen Schuldenberge der Staaten automatisch abschmelzen lassen.
Für den Bund gilt die Schuldengrenze
Da die Geldpolitik in Sachen Wachstum und Inflation versagt, wird seit kurzer Zeit der Ruf nach staatlichen Ausgabeprogrammen und anderen fiskalpolitischen Maßnahmen immer lauter. Vor allem auf Deutschland nimmt der Druck zu. Technisch gesehen befindet sich das Land in einer Rezession. Schwächelt Deutschland, schwächelt Europa. Doch umfassende Fiskalprogramme, die mit neuen Schulden finanziert werden, sind in Deutschland nicht so leicht umzusetzen. Seit 2016 gilt für den Bund die in der Verfassung verankerte Schuldengrenze. Demnach darf er neue Kredite nur sehr limitiert (0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) aufnehmen. Für 2019 wären dies sechs Milliarden Euro. Nur in Ausnahmefällen, wie beispielsweise bei einer schweren Rezession, ist der Spielraum größer.
Viele Experten halten die Politik der schwarzen Null für ökonomischen Unsinn, gerade in wirtschaftlich flauen Zeiten. „Die schwarze Null gehört in einer konjunkturell fragilen Lage auf den Prüfstand. Finanzpolitisch muss Deutschland jetzt umschalten“, heißt es beispielsweise vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Hinzu kommt: Schulden machen wäre wirtschaftlich sinnvoll. Angesichts der Zinspolitik der EZB und Deutschlands hervorragender Bonität verdient der deutsche Staat mit neuen Bundesanleihen derzeit Geld. Konkret: Leiht sich der Staat im Rahmen einer 30-jährigen Bundesanleihe 100 Euro, muss er in 30 Jahren nur 93 Euro zurückbezahlen. Zudem steht das Land finanziell hervorragend da. Seit 2013 verbucht das Finanzministerium Haushaltsüberschüsse, der Verschuldungsgrad liegt gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei gesunden 60 Prozent. Zum Vergleich: In Frankreich sind es knapp 100, in den USA 105 Prozent.
Die Appelle an die Bundesregierung zeigen Wirkung. So hatte Finanzminister Olaf Scholz kürzlich vorgerechnet, dass die Weltfinanzkrise Deutschland 50 Milliarden Euro gekostet habe. Sollte sich der Abschwung hin zu einer schweren Rezession entwickeln, wird Berlin wie nach der Finanzkrise 2008 ein umfassendes Konjunkturpaket auf den Weg bringen. In diesem Zusammenhang ist das von der Bundesregierung beschlossene Klimapaket, das 50 Milliarden Euro kosten soll, ohne dass die Schuldenbremse gebrochen wird, auch als ein fiskalpolitisches Programm zu sehen. Über weitere Maßnahmen wird nachgedacht. Die SPD macht sich für Steuerentlastungen insbesondere für kleinere und mittlere Einkommen stark. Und die Grünen haben einen Bundesinvestitionsfonds ins Spiel gebracht, der 35 Milliarden Euro im Jahr an neuen Krediten aufnehmen kann. Dafür sollte die Schuldenbremse gelockert werden.
Könnte es einen Deal zwischen der EZB und der Bundesregierung geben?
Besonders interessant sind Gedankenspiele, wonach es zu einem Deal zwischen der EZB und der Bundesregierung kommen könnte. Wenn Deutschland über Steuererleichterungen und Ausgabeprogramme die Wirtschaft stützt, könnte die Zentralbank auf eine weitere geldpolitische Lockerung verzichten.
Ob es soweit kommt, ist völlig unklar, Charme haben solche Überlegungen aber durchaus. Auf der einen Seite würde es die EZB von der einseitigen Last befreien, immer noch extremere Maßnahmen ergreifen zu müssen, um Konjunktur und Inflation nach oben zu bringen. Auf der anderen Seite könnte Deutschland im Zuge substanzieller fiskalpolitischer Programme seinen Kritikern etwas entgegensetzen. Diese monieren seit Langem, dass Deutschland zu wenig für den heimischen Konsum tue und sich stattdessen in enormen Handelsbilanzüberschüssen sonne. Ein Vorwurf, der nicht von der Hand zu weisen ist. Denn die deutschen Waren, die im Ausland überproportional stark gekauft werden, lassen hierzulande zwar die Gewinne steigen, bei den Handelspartnern jedoch die Schulden. Der Internationale Währungsfonds (IWF) sieht sogar „eine mittelfristige Bedrohung der globalen Finanzstabilität“, sollten Deutschlands Überschüsse weiter steigen. Insbesondere US-Präsident Donald Trump könnte wohlwollend auf fiskalische Anreize aus Berlin reagieren, wenn dadurch die US-Ausfuhren nach Europa steigen. Zölle auf deutsche Autos und andere Exporte, mit welchen Trump immer wieder droht, könnten damit vom Tisch sein. Hinzu kommt: Je stärker in Deutschland die Binnennachfrage ist, umso weniger abhängig ist das Land von seinen Exporterfolgen – und damit auch von den Auswirkungen diverser Handelskonflikte.
Fiskalpolitik wird nicht nur in Deutschland diskutiert
Die Diskussion um neue fiskalpolitische Programme ist nicht auf Deutschland begrenzt. So überlegen die Niederlande, bis zu 50 Milliarden Euro neue Schulden für Infrastruktur- und Bildungsprojekte aufzunehmen. Auch Südkorea will mit einem großen Konjunkturprogramm die Investitionen ankurbeln und in den USA denkt Trump über Steuersenkungen im Wahljahr 2020 nach.
Es ist klar erkennbar, dass in den vergangenen Monaten die Debatte um fiskalische Anreize entflammt ist, zumal es angesichts historisch niedriger Zinsen weltweit und einer niedrigen Inflation finanzpolitische Spielräume gibt. Für die Aktienmärkte ist das tendenziell ein gutes Zeichen. Wenn neben der ultralockeren Geldpolitik nun noch fiskalpolitische Programme hinzukommen, um eine Rezession zu verhindern und die Konjunktur zu stützen, dann dürfte dies auch den Aktienmärkten zugutekommen. Qualitativ hochwertige Unternehmen mit etablierten Geschäftsmodellen und einer soliden Dividendenrendite bleiben in diesem Umfeld erste Wahl.
Autor: Michael Reuss, geschäftsführender Gesellschafter bei der Huber, Reuss & Kollegen Vermögensverwaltung GmbH in München
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