Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Praxis

Prof. Ladwig, was waren die größten Stressoren, unter denen Ärztinnen und Ärzte während der Pandemie litten?

Das war ein Bündel von Dingen, die jeweils unterschiedliche Relevanz für einzelne Kolleginnen und Kollegen hatten. Ein großes Thema war allerdings, dass die ethischen Standards der normalen Patientenversorgung nicht immer eingehalten werden konnten. Teilweise mussten verängstigte und leidende Patienten und Patientinnen alleine gelassen werden. Sie hatten keine Möglichkeit, mit Angehörigen zu kommunizieren; Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegende konnten quasi nur in vermummter Form mit ihnen reden. Es war eine extrem beängstigende Situation und gerade da fehlte den notleidenden Patienten auch noch die unterstützende menschliche Ebene.

Hat sich die Lage im Laufe der Pandemie zum Positiven gewendet?

In der ersten Phase der Pandemie schwang auch die Angst vor einer eigenen Erkrankung mit. Mit den Impfungen trat das in den Hintergrund. Dennoch haben wir im Laufe unserer Studie keine Beruhigung oder Gewöhnung beobachtet. Im Gegenteil: Mit den weiteren Wellen kam es zu einer graduellen Verschlechterung des psychischen Befindens von Ärzten und Ärztinnen. Auf dem Höhepunkt der vierten Welle litten 24 Prozent unter Angstzuständen. 23 Prozent der teilnehmenden Ärzte und Ärztinnen hatten klinisch bedeutsame depressive Symptome.

Wieso wurde es mit zunehmender Pandemie-Routine nicht besser?

Ärztinnen und Ärzte haben immer mit dem Thema Tod zu tun. Doch in dieser massiven Häufung hat das noch nie stattgefunden. Schwerkranke waren Wochen und Monate auf den Intensivstationen; es kam zu vielen verstörenden Ereignissen. So stand die Lebensbedrohlichkeit der Situation immer wieder im Vordergrund. Hinzu kamen auch in späteren Phasen Unsicherheiten darüber, wie man COVID-Patienten am besten helfen konnte.

Auch die Niedergelassenen waren schwer belastet, zeigt die Studie…

Das stimmt, und trotzdem kam die Situation der Praxen in der öffentlichen Diskussion so gut wie gar nicht vor. Es gab Solidaritätskampagnen mit Pflegenden und Notfallmedizinern. Aber wie den Niedergelassenen der Rücken gestärkt werden kann, war politisch kaum ein Thema.

Auch bei den ambulant tätigen Kollegen haben wir während der vierten Welle 2021 ein hohes Ausmaß an depressiver Stimmungslage, Ängsten und dem Gefühl von Hilflosigkeit gefunden. Die Unsicherheit darüber, was man dem Patienten überhaupt noch anbieten kann, ist sehr belastend. Doch dieser Punkt ist bisher wenig beleuchtet worden. In einer schlimmen Situation hilflos zu sein, geht gewissermaßen gegen das ärztliche Selbstverständnis. Ärztinnen und Ärzte sollten ja immer wissen, wie es weitergeht – zumindest ist das der Anspruch von vielen an sich selbst. Dieses Stereotyp des Berufs mag auch dazu beigetragen haben, dass die Prävalenz der Depressionen in der Ärzteschaft (40,4 %) deutlich stärker ausgeprägt war als bei Pflegekräften (28 %).

Beeinträchtigen diese Belastungen auch die Patientenversorgung?

Das kann durchaus passieren. Die Hälfte der von Affektstörungen betroffenen Ärztinnen und Ärzte litt auch unter Schlafproblemen. Das verstärkt wiederum Sorgen und Ängste, die ihrerseits Schlafstörungen fördern, ein circulus vitiosus. Unser Screening-Instrument zeigt zudem, dass Schlafstörungen das Gefühl von Hilflosigkeit verstärken. Über einen längeren Zeitraum führt zu wenig Schlaf dazu, dass sich Betroffene schlechter konzentrieren können. Dieser Effekt ist gut untersucht, beispielsweise bei Chirurgen: Eine Weile lang halten sie ihre Fähigkeiten trotz wenig Schlaf aufrecht, aber irgendwann ist der Einbruch unvermeidlich.

Haben die teilnehmenden Ärzte das Problem offen thematisiert?

Es ist erstaunlich, wie offen sie ihre Probleme schilderten. Das ist nicht selbstverständlich. Normalerweise neigen Ärzte eher dazu, Dinge herunterzuspielen und persönliche Auswirkungen zu leugnen. Der Fragebogen war selbstverständlich anonymisiert. Dennoch ist es mutig, etwas schwarz auf weiß aufzuschreiben und sich dann selbst damit konfrontiert zu sehen. Die Kollegen und Kolleginnen haben dabei die berufsimmanente Verleugnungstendenz überwunden. Sie haben sich klar der Frage gestellt, wie es ihnen selbst in der Situation eigentlich ging.

Nicht wenige Ärzte haben die Konsequenzen gezogen und beispielsweise ihren Job an den Nagel gehängt. Hätte das vermieden werden können?

Unfassbare 24 Prozent der Klinikkollegen haben gekündigt. Aber auch 7,4 Prozent der Niedergelassenen haben ihren Beruf aufgegeben. Das sind Größenordnungen, die die ohnehin schwierige Versorgungslage in Deutschland weiter ins Wanken bringen. Deshalb ist es nun essentiell zu ermitteln, ob und wie man hätte gegensteuern können.

So waren es beispielsweise weniger die Älteren, die das Handtuch warfen, sondern eher die Jüngeren, die der extremen Belastung nicht standhalten konnten. Eine lange Berufserfahrung erwies sich als ein gewisser Schutzfaktor. Diese Erkenntnis eröffnet die Möglichkeit, Interventionen gezielt zu etablieren – und zwar nicht nur im Falle einer Pandemie, sondern auch im allgemeinen Arbeitsalltag. Insbesondere junge Ärzte und Ärztinnen brauchen mehr Rückhalt von ihren Vorgesetzten, sie müssen auch mehr von der Erfahrung älterer Kollegen profitieren können. Idealerweise werden strukturierte Möglichkeiten ins Leben gerufen, um schwierige Themen zu besprechen.

Wie können mehr Ressourcen und Resilienz geschaffen werden?

Die Arztgesundheit muss enttabuisiert werden, für Extremsituationen, aber auch für den Alltag. Es muss zur Rolle des Arztberufs dazugehören, die eigene mentale Gesundheit auf professionellem Niveau zu reflektieren. Niedergelassene könnten dazu etwa ähnlich wie Psychotherapeuten auf Kollegen zugehen und monatliche Intervisionstreffen vorschlagen. Auf solchen Treffen kann man sich über Neues aus der Wissenschaft ebenso austauschen wie über bestimmte schwierige – oder auch freudvolle – Fälle. Selbstverständlich gibt es für solche Qualifikationszirkel Fortbildungspunkte, die über die zuständige Ärztekammer beziehungsweise KV beantragt werden können.

Ist weitere Pandemie-Analyse nötig?

Unbedingt. So können wir Dinge antizipieren und künftig Belastungen besser abfedern. Während einer Krise selbst ist die Zeit zu knapp. Ich fände es gut, wenn es beispielsweise bei Jahrestagungen Seminare und Fortbildungen gäbe und Foren geschaffen werden, in denen nochmal im Nachhinein die Ereignisse kritisch reflektiert werden können.

Prof. Dr. med. Karl-Heinz Ladwig

– Professor für Psychosomatische Medizin und Medizinische Psychologie
– Senior Researcher an der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität München (TUM)
– Zentrale Forschungsgebiete: epidemiologische und klinische Stressforschung