Expertenrunde „COVID-19 in der Praxis“: Ohne Hausärzte geht es nicht
Marzena SickingUnter der Überschrift „COVID-19 in der Praxis“ hatte das Online-Ärztenetzwerk esanum vergangene Woche zu einer Expertenrunde geladen. In dem Live-Stream wurden praxisrelevante Fragen, die aktuell wohl jeden Niedergelassenen umtreiben, von und mit Medizinern diskutiert. Schöner Nebeneffekt: Die ärztlichen Teilnehmer der Online-Veranstaltung konnten CME-Punkte sammeln.
Von der Maskenknappheit über Herdenimmunität, bis hin zu neuen Abrechnungs-Modi: Das neue esanum-Format „COVID-19 in der Praxis“ bot mit seinem online gesendeten Expertengespräch zwei intensive, spannende und durchaus auch unterhaltsame Stunden rund um den Umgang der deutschen Hausärzte mit der Corona-Pandemie.
Diese Experten haben diskutiert
Dr. Petra Sandow, Hausärztin mit eigener Praxis in Berlin-Charlottenburg, moderierte das kostenfreie Live-Webinar und berichtete zugleich aus eigener Erfahrung. Als Experten geladen waren Prof. Dr. Thomas Weinke, Infektiologe und ärztlicher Direktor des „Ernst von Bergmann Klinikums“ Potsdam, sowie Dr. Thomas Schultz, niedergelassener Pneumologe in Berlin.
Italienischer Arzt spricht deutschen Kollegen Mut zu
Gleich zu Beginn live zugeschaltet war außerdem ein italienischer Experte, der hautnah über das Pandemie-Geschehen berichten kann. Dr. Enrico Storti, Chefarzt der Intensivstation und der Abteilung für Anästhesiologie und Reanimation im Klinikum Lodi bei Mailand, gab Teilnehmenden seine Erfahrungen weiter. In seinem Krankenhaus wurde Italiens erster Corona-Patient diagnostiziert.
Wie Dr. Storti berichtete, hat man dort inzwischen ein System entwickelt, bei dem Patienten mit nur leichten Symptomen sofort wieder nach Hause geschickt werden. Dort füllen sie dann zweimal täglich ein Formular zu ihrem Befinden aus und bestimmte Marker führen zu einer direkten Wiedereinweisung. So wird der Klinikbetrieb entlastet – und die Patienten werden dennoch betreut und bei Bedarf schnell aufgenommen.
Seinen deutschen Kollegen machte Dr. Storti Mut und empfahl im Kampf gegen den unsichtbaren Feind: Ändere täglich deine Meinung, wenn es nötig ist. Denn täglich kämen neue Informationen zu dieser neuen Krankheit herein.
Mehrheit der ÄrztInnen zeigt sich in Corona-Krise optimistisch
Was ist also neu in den Praxen im Land? Ehe die Experten sich äußern, nehmen die über 4.300 Webinar-Teilnehmer ein Voting vor. 63 % der Ärzte und Ärztinnen sehen in der Krise zwar einen großen Stresstest für die medizinische Versorgung, glauben aber, man werde sich auf die neue Situation einstellen können. Fast ein Drittel befürchtet dagegen, dass die Hausärzte der Herausforderung nicht gewachsen sein könnten. Nur 9 % meinen, das ganze Thema sei ohnehin zu heiß gekocht, bald würde alles wieder den gewohnten Gang gehen.
Auf die Frage, wie sie ihre persönliche Praxis-Situation einschätzen, sagen 27 %, dass sie vermutlich bald schließen müssten. Demgegenüber stehen 41 %, die sagen, sie verwenden darauf jetzt keinen Gedanken, sie konzentrieren sich auf ihre Arbeit. Auf sie habe das alles keine großen Auswirkungen, sagen 31 %.
Insgesamt erklären die Ärzte, derzeit kämen 41 % der Patienten in die Praxen, andere blieben weg oder telefonieren lieber mit ihrem Arzt.
Häufigste Frage: Warum erkranken manche schwer und andere nicht?
Bei der anschließenden Diskussion beschäftigen sich die Experten sowohl mit Fragen der Beschaffenheit des neuen Corona-Virus im Vergleich zu SARS und MERS als auch mit der Tatsache, dass derzeit weltweit 5 % der Erkrankten versterben, während die Mortalität in Deutschland nur 1,1 % beträgt.
Schon nach 20 Minuten hat Moderatorin Dr. Petra Sandow dazu so viele Fragen der Teilnehmer auf dem Screen, dass sie nur einige auswählen kann. So zum Beispiel die Frage, die alle beschäftigt: Warum erkranken manche Patienten schwer und andere spüren gar nichts? Dazu gibt es derzeit nur die bekannte und nicht sehr differenzierte Aussage: Alter und Komorbidität bestimmen das Geschehen bei jedem Einzelnen. Ob uns COVID-19 ab jetzt jeden Winter heimsuchen wird, dazu gibt es noch keinerlei belastbare Prognose.
Was wir derzeit wissen, ist noch nicht wirklich viel
Viele praxisrelevante Fragen wurden von den Experten beantwortet. Zugleich zeigten diese aber auch, wie groß die Wissenslücken und Unsicherheiten auch unter Ärzten derzeit noch sind: Wer soll den Test bekommen? Überlebt das Virus auf Flächen – und wie lange? Helfen vielleicht antivirale Substanzen, die es schon gibt? Gibt es eine dauerhafte Immunität nach überstandener Infektion? Ist es ratsam, sich selbst zu infizieren, um danach immun zu sein und weiterarbeiten zu können? Hier warnte der Infektiologe Prof. Weinke übrigens entschieden: Bloß nicht, da sei man noch auf zu dünnem Eis. Sich oder andere bewusst mit einem Virus anzustecken, über den man so wenig weiß, wäre also mehr als fahrlässig.
Auch fachlich wurde es sehr konkret: So zeigte Dr. Thomas Schulz, was genau das Virus mit der Lunge im schlimmsten Fall anrichtet. Am Schluss gab es Praxis-Tipps für Hausärzte, die mehr machen wollen – die bei sich noch Kapazitäten sehen. In Berlin können sie sich zum Beispiel als „Covid-Fieber-Praxis“ melden – eine Initiative der Kassenärztlichen Vereinigung.
120 Arztpraxen haben in Berlin aktuell geschlossen
Demgegenüber steht eine Zahl, die Dr. Sandow nicht ohne Besorgnis nannte: 120 Arztpraxen haben in Berlin aktuell geschlossen, zum großen Teil wegen Erkrankung, einige haben aus Protest gegen die derzeitigen Arbeitsumstände, zu denen insbesondere der Mangel an Schutzausrüstung gehört, sogar ihre Kassenzulassung zurückgegeben. Dazu erklärte Dr. Schultz: Letzteres sei für ihn kein geeignetes Vorgehen, er nannte es unethisch, derzeit die Kassenzulassung niederzulegen. Wir Niedergelassenen sind die Entlastung der Krankenhäuser, damit diese nicht überlaufen werden, meinte er. Man müsse sich vielmehr vernetzen, jeder könne das tun, was ihm möglich sei. Das Virus sei so neu, die ganze Situation sei so neu, da braucht es auch neue Lösungen. Wir Pneumologen sind jedenfalls noch nicht überlaufen – so seine klare Aussage.
Dr. Sandow gab anschließend eine detaillierte Übersicht über die Probleme, mit denen Hausärzte aktuell besonders zu kämpfen haben: Ressourcenmangel, Personalmangel, Zeitmangel – die Liste der Mangelerscheinungen ist lang. Gleichzeitig gelten neue Regeln für extrabudgetäre Leistungen und Abrechnungsziffern, die Dr. Sandow an Hand von Sheets erklärte.
Zum hochbrisanten Thema Masken gab es eine kleine Aufmunterung: Sie seien unterwegs und würden derzeit verteilt. Inzwischen hat sich die Hoffnung auf ausreichend Material wohl zerschlagen: In seiner letzten Mitteilung zum Thema rät der Krisenstab der Bundesregierung zur Wiederverwertung der nach wie vor raren Masken.
Das Fazit der Experten zur aktuellen Situation
Wie das Fazit von Prof. Weinke zeigt, gibt es aber durchaus auch gute Entwicklungen, die es ohne die Corona-Krise so wohl nicht gegeben hätte: In seiner Klinik würden jetzt Teams zusammenarbeiten, deren Zusammensetzung früher undenkbar war. Sie improvisieren jeden Tag – und sie haben Freude daran.