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Pädiatrie

Futuristisch mutet die künstlerische Darstellung der freischwebenden, schillernden Gebärmutterkugeln an der Technischen Universität Eindhoven an. Doch dystopische Befürchtungen einer „schönen Neuen Welt“, wie sie der Autor Aldous Huxley zu Beginn der 1930er-Jahre beschrieb, sind hier fehl am Platz. Denn bei dem EU-finanzierten Projekt PLS (Perinatal Life Support System: Integration of Enabling Technologies for Clinical Translation) geht es beileibe nicht darum, sogenannte Designer-Babys zu züchten und die natürliche Schwangerschaft durch Ektogenese zu ersetzen. Das interdisziplinäre Team aus Wissenschaft und Industrie will nur eins: die Überlebensrate von extrem Frühgeborenen verbessern.

Jeder weitere Tag im Mutterleib lässt Überlebenschancen steigen

Extreme Frühgeburten sind die häufigste Todesursache bei Neugeborenen. Derzeit überleben in einkommensstarken Ländern nur rund zwei Drittel bis drei Viertel der Kinder, die in der 24. Schwangerschaftswoche geboren werden. Allerdings lässt jeder einzelne Tag, an dem sie im Mutterleib heranreifen können, ihre Überlebenschancen steil ansteigen.

Laut der Leitlinie „Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit“ der Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin e.V. (GNPI) kommen die besten populationsbezogenen Daten hierzu aus Schweden. Dort ging ein Gestationsalter von 23 beziehungsweise 24 Wochen mit einer Überlebensrate von 66 beziehungsweise 79 Prozent einher. Allerdings waren die Überlebenden zu 72 beziehungsweise 60 Prozent von schweren prognosebestimmenden Komplikationen betroffen.

Hohe Rate schwerer Komplikationen bei extrem Frühgeborenen

Das Risiko chronischer Erkrankungen und Störungen ist für diese zarten Kinder, die nur einige hundert bis zu 1.000 Gramm wiegen, deutlich erhöht. Viele ihrer Organfunktionen sind noch nicht oder nicht vollständig ausgeprägt. Ein dringliches Problem, das wesentlich zur Entstehung von Behinderungen beitragen kann, sind die unreifen Lungen. Sie schaffen es nicht, den Körper ausreichend zu versorgen.

Extrem Frühgeborene leiden deutlich häufiger als reifere Frühchen unter neurologischen Entwicklungsstörungen, kognitiven Defiziten, Seh- oder Hörproblemen, Cerebralparese, kardiovaskulären und metabolischen Problemen sowie unter chronischen Lungenerkrankungen. Je früher ein Kind die schützende Umgebung des Mutterleibs verlassen muss, desto höher ist sein Risiko für eine Behinderung und das Risiko von Mehrfachbehinderungen. Die Prognose für ein Leben ohne Behinderungen ist für Kinder, die vor der 25. Schwangerschaftswoche geboren wurden, besonders kritisch.

Leitmotiv Geborgenheit und Schutz

Um das Risiko späterer Entwicklungsdefizite möglichst effektiv zu senken, brauchen diese sehr fragilen Kinder einen ungestörten Raum, in dem sie sich entwickeln können. Diesen könnte künftig das medizinische Gerät aus Eindhoven bieten. Es soll die sichere Entwicklung dieser Kinder unterstützen und mit jedem Tag ihre Überlebenschancen und ihre Chancen auf ein gesundes Leben steigern.

In der künstlichen Gebärmutter, wie sie das Team um Prof. Frans van de Vosse und Prof. Guid Oei anstrebt, soll das Kind von Flüssigkeiten umgeben werden und Sauerstoff sowie Nährstoffe voraussichtlich via einer Nabelschnur mit einer künstlichen Plazenta aufnehmen – wobei das letzte Wort über die optimale Schnittstelle noch nicht gesprochen ist.

Sterblichkeit extrem Frühgeborener reduzieren

Die zarten Lungen und Blutgefäße würden geschont, die Herzfrequenz und Sauerstoffversorgung würden lückenlos überwacht, ebenso die Gehirn- und Muskelaktivitäten. So hoffen die Forschenden, die Sterblichkeit extrem Frühgeborener auf 15 Prozent reduzieren zu können. Um das Gerät zu erproben, entwickelt derzeit eine Gruppe innerhalb des Projekts eine Übungspuppe, die extrem frühgeborene Kinder genau simulieren soll. Ein erster Prototyp der künstlichen Gebärmutter ist bis 2024 geplant.

Ansätze zu extrakorporalen Lebenserhaltungssystemen, die eine intrauterine Umgebung simulieren, gab es in der Vergangenheit schon einige, ein Durchbruch wurde 2017 erzielt, als Forschende am Children’s Hospital of Philadelphia frühgeborene Lämmer in einem Biosack gefüllt mit künstlichem Fruchtwasser am Leben halten konnten.
Das neuartige System aus Eindhoven wird voraussichtlich eher die Anmutung eines Medizinballs als eines Plastikbeutels haben. Es soll bereits in wenigen Jahren für die nötige Geborgenheit sorgen, damit sich extrem früh Geborene möglichst wie im Mutterleib entwickeln können. Für dieses Ziel gewährt die EU im Rahmen ihres Programms Horizon 2020 eine Förderung über 2,9 Millionen Euro.

Quellen und Literatur

Eindhoven University of Technology: Multimillion grant brings artificial womb one step closer: https://www.tue.nl/en/news/news-overview/multimillion-grant-brings-artificial-womb-one-step-closer/

CORDIS Forschungsergebnisse der EU: https://cordis.europa.eu/article/id/411541-brave-new-world-artificial-womb-prototype-offering-hope-for-premature-babies/de
Perinatal Life Support System: Integration of Enabling Technologies for Clinical Translation: https://cordis.europa.eu/project/id/863087
Langfassung der Leitlinie “Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit” von der Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin e.V. (GNPI).

Partridge, E., Davey, M., Hornick, M. et al. An extra-uterine system to physiologically support the extreme premature lamb. Nat Commun 8, 15112 (2017). https://doi.org/10.1038/ncomms15112