Termingarantie beim Facharzt? Dr. Ulrich Tappe fordert realistische Versorgungspolitik ohne Budgetgrenzen
Marzena SickingBundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) plant, im Rahmen eines Primärarztsystems den Zugang zu Fachärzten über Hausärzte zu steuern und dabei eine Termingarantie einzuführen. Kritiker, darunter der Berufsverband der niedergelassenen Magen-Darm-Ärzte (bng), warnen jedoch vor den praktischen Herausforderungen einer solchen Garantie, insbesondere im Hinblick auf die bestehenden Budgetierungen und begrenzten Ressourcen in Facharztpraxen. Im Interview erläutert Dr. Ulrich Tappe, Vorsitzender des bng, welche strukturellen Hürden die fachärztliche Versorgung derzeit belasten und welche Maßnahmen aus seiner Sicht erforderlich sind, um eine bedarfsgerechte Versorgung sicherzustellen.
Dr. Tappe, Sie kritisieren das politische Versprechen einer „Termingarantie“ und sprechen stattdessen von "hausgemachten Engpässen in der Terminvergabe". Welche strukturellen oder politischen Ursachen stehen Ihrer Ansicht nach derzeit einer bedarfsgerechten fachärztlichen Versorgung im Weg?
In Deutschland wird häufig über lange Wartezeiten auf Facharzttermine geklagt – vor allem von gesetzlich Versicherten. Gleichzeitig zeigen internationale Vergleiche, dass Deutschland im OECD-Raum zu den Ländern mit den kürzesten durchschnittlichen Wartezeiten auf Facharzttermine zählt.
Woran liegt das Paradox?
Budgetierung und Fallzahlbegrenzung: Fachärzte in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) unterliegen einer strengen Budgetierung. Leistungen, die über festgelegte Mengen hinausgehen, werden nur zum Teil oder gar nicht vergütet. Das führt dazu, dass viele Praxen nicht beliebig viele gesetzlich versicherte Patienten behandeln können oder wollen – trotz freier Kapazitäten im Terminkalender.
Wie wirkt sich die Budgetierung in Ihrer Praxis aus? Gibt es Monate, in denen Sie medizinisch notwendige Leistungen faktisch ohne Vergütung erbringen müssen?
In unserer fachärztlichen Praxis versorgen wir zahlreiche Patientinnen und Patienten mit komplexen, chronischen Erkrankungen wie chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED), Lebererkrankungen sowie onkologischen Diagnosen. Diese Patientinnen und Patienten benötigen eine engmaschige, leitliniengerechte Betreuung, zu der regelmäßige sonographische Verlaufskontrollen unabdingbar gehören.
Können Sie ein konkretes Beispiel dafür nennen, wie sich das in der täglichen Arbeit bemerkbar macht?
Es ist inzwischen zur Regel geworden, dass zum Quartalsende erbrachte Leistungen – insbesondere sonographische – nicht oder nur noch zu 25 % vergütet werden. Die Budgets sind erschöpft, das Regelleistungsvolumen ist aufgebraucht, die Mehrarbeit bleibt unbezahlt.
Das allein wäre bereits inakzeptabel, aber es kommt noch schlimmer. Denn hinzu kommt: Diese medizinisch notwendige und über das Maß der Budgetierung hinausgehende Versorgung wird regelmäßig statistisch regressiert.
Was genau ist mit „statistisch regressiert“ gemeint?
Das bedeutet: Die Leistung wurde formal budgetiert, also mit gedeckeltem Honorar vergütet. Zusätzlich wird dieselbe Leistung im Rahmen einer statistischen Wirtschaftlichkeitsprüfung beanstandet – als „überdurchschnittlich“ – und es folgen Regressforderungen jetzt aber nicht der budgetierten Leistung, Der Regress wird zu 100% zurückgefordert.
Fazit: Die gleiche medizinisch sinnvolle Leistung wird doppelt bestraft – sie wird nicht bezahlt und zusätzlich sanktioniert.
Wie reagieren Sie in Ihrer Praxis auf diese Situation?
Konkrete Konsequenz für unsere Praxis: Wir müssen mit jedem Quartalsende gezielt überlegen, ob wir medizinisch gebotene Untersuchungen überhaupt noch durchführen können, ohne wirtschaftlich in Schieflage zu geraten. Die Folge ist ein zunehmender Versorgungsdruck, insbesondere auf Patientinnen und Patienten mit chronischen und onkologischen Erkrankungen – also auf die vulnerabelsten Gruppen im System.
Wie positioniert sich der Berufsverband der Gastroenterologen zu dieser Entwicklung?
Der Berufsverband der Gastroenterologen (bng) kritisiert regelmäßig die Praxis der statistischen Regressprüfungen: „Einzelfallgerechte Patientenversorgung wird durch willkürliche Grenzwerte systematisch bestraft.“ Der bng fordert eine pragmatische Entbudgetierung medizinisch sinnvoller Diagnostik (wie Sonographie) sowie zielgerichtete Prüfgruppen.
Die Politik diskutiert Termingarantien – teilweise mit Sanktionen für Ärzte. Welche Reaktion wünschen Sie sich stattdessen von der Politik, um Versorgung realistisch sicherzustellen?
Die derzeitige Struktur des Gesundheitswesens lässt eine unkontrollierte, parallele Inanspruchnahme mehrerer Fachärzte – auch innerhalb derselben Fachgruppe – zu, ohne dass diese in irgendeiner Weise gesteuert oder sanktioniert wird. Dies führt nicht nur zu einer Fehlverteilung von Ressourcen, sondern auch zu einer Verschwendung begrenzter ärztlicher Kapazitäten – insbesondere bei niedergelassenen Fachärzten.
Was wäre aus Ihrer Sicht ein sinnvoller erster Schritt, um diesem Missstand zu begegnen?
Hier ist eine intelligente, koordinierte Patientensteuerung zwingend erforderlich. Sie muss drei Prinzipien folgen:
Vermeidung von Über- und Unterversorgung durch indikationsbezogene Steuerung und Koordination.
Verantwortung auch auf Seiten der Versicherten: Wer ohne medizinische Notwendigkeit mehrere Facharztmeinungen parallel einholt, trägt zur Überlastung des Systems bei. Diese Form der Selbstbedienung muss sanktionierbar sein.
Verantwortung auf Seiten der Ärzte muss honoriert, nicht bestraft werden: Wird eine medizinisch indizierte Leistung erbracht, darf diese weder durch Budgetierung gedeckelt noch regressiert werden.
Können Sie ein Beispiel für solche medizinisch indizierten, aber wirtschaftlich gefährdeten Leistungen nennen?
Eine begründete, leitliniengerechte Diagnostik – wie z. B. eine Sonographie bei CED oder Lebererkrankung – darf nicht durch betriebswirtschaftliche Erwägungen verhindert werden.
Was müsste sich grundlegend ändern, damit Versorgung nicht länger zu Lasten der Leistungserbringer organisiert wird?
Hier ist ein Paradigmenwechsel erforderlich: Nicht die Leistungserbringer dürfen diejenigen sein, die für ein ungesteuertes System den Preis zahlen – in Form von Regressen, Budgetdeckelung und wachsendem Dokumentationsdruck.
Stattdessen braucht es eine Systemlogik, in der:
medizinisch notwendige Leistungen unbudgetiert erbracht werden können,
Koordination und Steuerung auf Systemebene stattfinden,
und Verantwortung zwischen Patient und Leistungserbringer gerecht verteilt ist.
Sie fordern eine Entbudgetierung für Fachärzte nach dem Vorbild der Hausärzte. Welche Effekte erwarten Sie dadurch für Terminverfügbarkeit und Versorgungsqualität?
Eine älter werdende Bevölkerung mit komplexeren Erkrankungen braucht mehr medizinische Versorgung, nicht weniger. Gleichzeitig stehen begrenzte ärztliche Ressourcen zur Verfügung. In dieser Lage ist Budgetierung nicht nur wirkungslos – sie ist kontraproduktiv. Leistung muss dem Bedarf folgen dürfen – nicht vom Budget begrenzt werden. Nur so kann eine Verbesserung einer Terminverfügbarkeit bzw. Erhalt der Versorgungsqualität erzielt werden.
In der geplanten Patientensteuerung über Hausärzte sehen Sie Chancen – aber auch Risiken. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ein solches Primärarztsystem funktioniert?
Steuerung über den Hausarzt greift zu kurz, hier ist eine sektorenübergreifende Intelligenz gefordert Die oft geforderte Patientensteuerung über den Hausarzt allein ist nicht zukunftsfähig. Schon heute reicht die Zahl der Hausärzte nicht aus – und der demographische Wandel wird diesen Engpass weiter verschärfen. Was es braucht, ist eine intelligente, sektorenübergreifende Versorgungssteuerung, die Verantwortung nicht ausschließlich bei einer Berufsgruppe ablädt, sondern das Gesamtsystem einbezieht.
Können Sie konkrete Beispiele für eine solche smarte Steuerung nennen?
Beispiele für smarte, integrierte Steuerung:
Nachsorge durch Fachärzte im onkologischen oder postoperativen Bereich nach Klinikentlassung – ohne unnötige hausärztliche Zwischenschritte.
Kasseninitiierte Präventionsmaßnahmen wie das Einladeverfahren zur Darmkrebsvorsorge oder das Mammographie-Screening – klar strukturiert und digital gestützt.
Digitale Tools zur Koordination, z. B. Terminlenkung, strukturierte Nachverfolgung oder indikationsbasierte Steuerungsalgorithmen. Ziel muss sein: Versorgung entlang des tatsächlichen Patientenbedarfs – nicht entlang historischer Zuständigkeiten.
Sie warnen davor, den unmittelbaren Zugang zum Facharzt bei Früherkennung und bekannten Diagnosen zu beschneiden. Welche Folgen hätte das aus Ihrer Sicht für Prävention und Versorgung chronisch Kranker?
Prävention bedeutet, Krankheiten gar nicht erst entstehen zu lassen.Dieses Ziel ist im deutschen Gesundheitswesen bisher unterentwickelt, obwohl erfolgreiche Beispiele wie die Darmkrebsvorsorge zeigen, dass Prävention wirkt: Sie rettet Leben und spart langfristig Ressourcen. Auch andere präventive Maßnahmen – etwa Impfprogramme – sind nach wie vor unterausgeschöpft, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung hausärztlich angebunden ist.
Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Der Denkfehler: Die Summe aller präventiven Aufgaben – von Früherkennung über Impfungen bis hin zu strukturierter Vorsorge – soll aktuell primär auf den Schultern der Hausärzte lasten.
Welche Folgen hätte das bei der absehbaren Entwicklung der hausärztlichen Versorgung?
Angesichts der bereits absehbaren hausärztlichen Unterversorgung ist das nicht realistisch und gefährdet das Ziel der Prävention. Eine wirksame Präventionsstrategie kann nicht durch Überforderung eines einzelnen Versorgungsbereichs funktionieren.
Was wäre aus Ihrer Sicht notwendig, um Prävention zukunftsfest zu gestalten?
Was es stattdessen braucht sind die folgenden Dinge: Strukturelle Einbindung von Fachärzten in Präventionsketten (z. B. Gastroenterologie, Gynäkologie, Dermatologie) Initiativen durch Krankenkassen, unterstützt von digitalen Einladungs- und Dokumentationssystemen Sektorübergreifende Koordination, die Prävention als gemeinsame Aufgabe aller Leistungserbringer versteht.
Nur wenn Prävention systemisch gedacht und fair verteilt wird, kann sie ihren Nutzen für die Gesellschaft entfalten.
Viele Menschen erleben lange Wartezeiten und machen Ärztinnen und Ärzte persönlich verantwortlich. Was entgegnen Sie diesen Patientinnen und Patienten?
„Wir verstehen den Frust über lange Wartezeiten. Diese sind für Sie belastend, und viele von Ihnen fühlen sich allein gelassen. Aber: Wir als Ärztinnen und Ärzte sind nicht die Ursache dieses Problems – sondern ebenso Betroffene wie Sie.“
Denn was eben nicht bekannt ist: Wir behandeln weit mehr Patientinnen und Patienten, als das System tatsächlich vergütet. Viele Leistungen, die wir erbringen – auch bei chronisch Erkrankten oder in Notfällen – werden nur teilweise oder gar nicht bezahlt, andererseits wollen auch unsere Mitarbeiter ihren gerechten Lohn erhalten. Und wenn wir zu viele dieser Leistungen erbringen, drohen uns zusätzlich Regressforderungen, also finanzielle Strafen.
Gleichzeitig fehlen zunehmend ärztliche Kolleginnen und Kollegen – besonders in der Facharztversorgung. Der Nachwuchs meidet zunehmend die Niederlassung, weil die Arbeit in diesem System nicht mehr planbar und oft wirtschaftlich riskant ist.
Wir brauchen daher keine Schuldzuweisungen – sondern ehrliche politische Reformen die uns wieder ermöglichen, das zu tun, was wir gelernt haben: Heilen, begleiten, vorsorgen – und für Sie da sein.
Was wäre für Sie der wichtigste erste Schritt, den die Politik jetzt tun müsste, um die Blockaden in der fachärztlichen Versorgung zu lösen?
Der wichtigste erste Schritt ist daher die klare Entbudgetierung medizinisch notwendiger Leistungen – insbesondere in der Versorgung chronisch kranker, onkologischer und komplexer Patienten. Diese Entbudgetierung schafft wieder Planbarkeit und Handlungssicherheit für die Praxen – und ist die Voraussetzung dafür, dass Fachärztinnen und Fachärzte überhaupt Termine anbieten können.
Gleichzeitig braucht es eine Verbindlichkeit auch auf Patientenseite: Patienten müssen Teil der Versorgungskette sein – nicht bloße Nutzer. Wer Termine mehrfach oder parallel bucht, wer sich ungesteuert durch das System bewegt, trägt zur Überlastung bei. Eine strukturierte, digitale Patientensteuerung ist notwendig – ebenso wie eine Kultur der Mitverantwortung und Verbindlichkeit.
Was wäre aus Ihrer Sicht somit die wichtigste Konsequenz für die zukünftige Versorgung?
Ehrlichkeit über die Grenzen des Systems, klare Entbudgetierung fachärztlicher Leistungen und eine geregelte Patientenbeteiligung – das sind die drei Säulen, auf denen eine funktionierende fachärztliche Versorgung in Zukunft stehen muss.
Dr. med. Ulrich Tappe
Dr. med. Ulrich Tappe ist Facharzt für Innere Medizin mit dem Schwerpunkt Gastroenterologie sowie Zusatzqualifikationen in Proktologie, Ernährungsmedizin und fachgebundener genetischer Beratung. Seit März 2022 ist Ulrich Tappe zudem 1. Vorsitzender des Berufsverbands Niedergelassener Gastroenterologen Deutschlands e.V. (bng), der über 90 % der niedergelassenen Magen-Darm-Ärzte in Deutschland vertritt. Kontakt und weitere Informationen: Berufsverband Niedergelassener Gastroenterologen Deutschlands e.V.