Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Praxis

Als der Fall des „White Tiger“ bekannt wurde, zeigte sich schmerzhaft, dass Sextortion Kinder und Jugendliche bis in den Tod treiben kann. Der heute 21-Jährige soll im Netzwerk „764“ Minderjährige manipuliert und mindestens einen 13-jährigen Jungen zum Suizid getrieben haben. Die Behörden ermitteln wegen Hunderter Straftaten – darunter Mord und fünffacher versuchter Mord. Der Fall ist extrem, doch das Vorgehen verbreitet sich: Täter bringen Kinder und Jugendliche dazu, intime Aufnahmen zu schicken, um sie später damit unter Druck zu setzen – etwa zur Herausgabe weiterer Bilder. Adressdaten aus Datenlecks, die im Darknet gehandelt werden, ermöglichen es ihnen teilweise, das Wohnumfeld über Dienste wie Google Street View zu beschreiben – und so den Druck zu erhöhen. Zusätzlich verschärfen inzwischen auch KI-generierte Deepfakes die Lage.

Steigende Fallzahlen bei online-sexueller Erpressung (oSCEC)

Online-sexuelle Erpressung (oSCEC) ist eine Form von sexueller Gewalt. In rund 83 Prozent der Fälle steht laut Europol ein sexuelles Motiv im Vordergrund; seltener geht es primär um Geld oder Sachwerte. Häufig täuschen die Täter zunächst Freundschaft oder Romantik vor (Cybergrooming), geben sich als Gleichaltrige aus oder verschaffen sich Zugriff auf Online-Konten. Kinder und Jugendliche lassen sich leichter täuschen, unterschätzen Risiken und schämen sich dann oft, Hilfe zu suchen. Kerstin Claus, Unabhängige Bundesbeauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), warnt vor der zunehmenden Verlagerung sexualisierter Gewalt ins Netz. Die Zahl gemeldeter Missbrauchsdarstellungen ist demnach von 23.000 Fällen im Jahr 2010 auf über 725.000 im Jahr 2019 gestiegen – bei vermutlich hoher Dunkelziffer.

Typische Warnsignale für betroffene Kinder und Jugendliche

Sextortion ist für Betroffene oft stark belastend. Warnzeichen können Rückzug, Stimmungsschwankungen, Ängste, plötzlicher Geldbedarf, heimliche Internetnutzung oder panische Reaktionen auf Nachrichten sein. Eindeutige Verhaltensmuster gibt es jedoch nicht – manche zeigen keinerlei offensichtliche Symptome. Umso wichtiger ist es, bei den Vorsorgeuntersuchungen oder im Jugendgespräch gezielt, aber sensibel nach Mediennutzung, Online-Kontakten und persönlichen Erfahrungen zu fragen.

Prävention und Empfehlungen

Kinder sollten frühzeitig für die Risiken digitaler Kommunikation sensibilisiert werden. Karin Wilhelm vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) empfiehlt: keine Nachrichten von Fremden beantworten, keine sensiblen Daten oder Bilder teilen, bei seltsamen Anfragen sofort mit einer Vertrauensperson sprechen – und ein gesundes, grundsätzliches Misstrauen gegenüber Fremden im Internet pflegen. Wenn es dennoch zu Erpressungsversuchen kommt, gilt: nicht reagieren, nichts zahlen, Beweise sichern und die Polizei sowie die Plattformbetreiber informieren. Ärztinnen und Ärzte sollten ihre Beobachtungen dokumentieren und – bei konkretem Verdacht – an spezialisierte Fachstellen weiterleiten. Eine suggestive Gesprächsführung und insistierendes Nachfragen gilt es zu vermeiden, um die Glaubhaftigkeit des Kindes nicht zu gefährden. Aussagepsychologisch relevant sind laut UBSKM vor allem spontane, unbeeinflusste Schilderungen.

Straftat

Die digitale Erpressung mit Nacktaufnahmen fällt unter Nötigung, Erpressung und gegebenenfalls Verbreitung kinderpornografischen Materials. Ernste Fälle sollten interdisziplinär bearbeitet werden – mit Einbindung psychologischer Fachkräfte, Jugendhilfe, Beratungsstellen und Polizei. Betroffene und ihre Eltern können auf das Online-Portal der Polizei (polizei-beratung.de) hingewiesen werden. Der „Weiße Ring“ bietet ebenfalls Beratung für digitale Kriminalitätsopfer (weisser-ring.de).