Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Recht

Bislang verließen sich viele Praxisinhaber darauf, dass sie den Arbeitslohn für Mitarbeiter erstattet bekommen, die zwar nicht selbst an COVID-19 erkrankt sind, sich aber in Quarantäne befinden und dadurch einen Verdienstausfall erleiden. Dieser Verdienstausfall wird nach § 56 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) vom Staat entschädigt. Der Arbeitgeber muss die Entschädigung für die Behörde auszahlen und kann innerhalb von drei Monaten einen Antrag auf Erstattung stellen. So sieht es das Gesetz vor. Ist ein Mitarbeiter tatsächlich an COVID-19 erkrankt, gibt es diese Entschädigung nicht, denn der Arbeitgeber ist dann zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verpflichtet.

Nun gibt es in vielen Arztpraxen ein böses Erwachen. Denn immer mehr Praxisinhaber berichten, dass ihre Anträge auf Erstattung abgelehnt werden. Die Behörden berufen sich auf das Kleingedruckte. Und das drängt Praxischefs in eine äußerst wackelige Position.

Anspruch praktisch entwertet

So argumentiert etwa die Senatsverwaltung für Finanzen in Berlin in einem Ablehnungsschreiben an eine Ärztin, das der Redaktion von ARZT & WIRTSCHAFT vorliegt, damit, dass der in Quarantäne befindlichen Mitarbeiterin gar kein Verdienstausfall entstanden sei. Denn die Ärztin sei nach  §616 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) verpflichtet gewesen, der Mitarbeiterin für die Zeit der Quarantäne, im vorliegenden Fall elf Arbeitstage, den Lohn weiterzuzahlen. Damit wäre der Anspruch auf eine Erstattung des Arbeitslohns für einen in Quarantäne befindlichen Mitarbeiter praktisch entwertet.

Das regelt § 616 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

616 BGB regelt, dass ein Arbeitnehmer seinen Anspruch auf Vergütung dann nicht verliert, wenn er für eine „verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit“ durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Arbeit gehindert wird. Damit verpflichtet der Gesetzgeber den Arbeitgeber beispielsweise dann zur Fortzahlung des Gehalts, wenn ein naher Angehöriger eines Arbeitnehmers plötzlich schwer erkrankt und der Mitarbeiter sich kümmern muss.

Altes Urteil von 1978 maßgeblich?

Was allerdings unter einer „verhältnismäßig nicht erheblichen Zeit“ zu verstehen ist, sagt das Gesetz nicht. Laut Rechtsprechung kommt es auf die Umstände an. Die Behörden legen die Vorschrift nun sehr großzügig aus. Bei länger bestehenden Arbeitsverhältnissen könne die Sechs-Wochen-Frist nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz als Obergrenze herangezogen werden, schreibt die Senatsverwaltung für Finanzen in Berlin. Sie beruft sich dabei auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) aus dem Jahr 1978.

Der damalige Fall

In dem damaligen Fall erkrankten zwei Gesellen eines Metzgers an Salmonellen und erhielten vom Gesundheitsamt ein mehrwöchiges Beschäftigungsverbot. Der Metzger zahlte ihnen den Lohn weiter und beantragte eine Erstattung. Ohne Erfolg. Der BGH entschied, dass die Arbeitsverhinderung in diesem Fall einer Krankheit gleichkomme. Die allgemein für Erkrankungen geltende Sechs-Wochen-Frist sei daher jedenfalls bei einem länger andauernden unbefristeten und ungekündigten Arbeitsverhältnis als Grenze anzusehen.

„Was man unter einer verhältnismäßig nicht erheblichen Zeit versteht, ist jeweils eine Frage des Einzelfalls“, sagt Lars Grützner, Fachanwalt für Arbeitsrecht in der Kanzlei KLIEMT Arbeitsrecht in Frankfurt am Main. „Hier spielt unter anderem die Dauer des Arbeitsverhältnisses eine Rolle. Besteht es erst wenige Wochen, ist auch der Zeitraum kürzer.“ So gibt es Gerichtsentscheidungen, die bei einer Beschäftigungsdauer von mehr als zwölf Monaten auch einen Zeitraum von 14 Tagen noch als „verhältnismäßig nicht erheblich“ ansehen. Andere gehen bei einem über zwölf Monate bestehenden Arbeitsverhältnis von lediglich drei Tagen aus. „Regelmäßig werden in der Rechtsprechung aber zwei Wochen als Maximum angesehen“, sagt der Jurist.

Frage höchstrichterlich geklärt

Wie kann es dann sein, dass die Behörden sechs Wochen für einen nicht erheblichen Zeitraum halten? „Die Rechtsprechung bezieht zu Recht auch die Gründe für die Abwesenheit des Arbeitnehmers mit ein“, erklärt Grützner. „So werden von den Gerichten für die Pflege naher Angehöriger beispielsweise bis zu fünf Tage als verhältnismäßig nicht erheblich angesehen. Für den Fall einer Quarantäne hat die Rechtsprechung in Anlehnung an die Entgeltfortzahlung bei Krankheit entschieden, dass Entgeltfortzahlung von bis zu sechs Wochen zu leisten ist“, sagt der Jurist. „Das BGH-Urteil von 1978 ist zwar alt, aber es existiert.

Damit ist die Frage an sich höchstrichterlich geklärt. Für überzeugend hält der Anwalt diese unterschiedliche Wertung nicht. Ausbaden müssen es die Arbeitgeber. Der Anspruch steht und fällt übrigens mit dem Begriff „verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit“. „Dauert die Verhinderung länger, ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, den Lohn weiterzuzahlen, auch nicht anteilmäßig“, sagt Grützner. Die Folge: Der Mitarbeiter hat dann tatsächlich einen Verdienstausfall erlitten. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der Arbeitgeber bei einer Quarantäne einen Anspruch auf Erstattung für den weiter bezahlten Arbeitslohn nach dem IfSG hat.

Das mag einer der Gründe sein, warum die Behörden sich so vehement auf das Urteil von 1978 berufen. Grützner: „Würde man die Grenze etwa bei zehn Tagen ziehen, dann wäre eine elftägige Abwesenheit wegen Quarantäne nicht mehr unerheblich im Sinn von § 616 BGB und die Behörden müssten für den gesamten Zeitraum den Entgeltausfall erstatten. Das wollen sie natürlich verhindern.“

Ernüchternde Bilanz

Für eine eventuelle Klage gegen die Ablehnung der Erstattung sind laut IfSG die ordentlichen Gerichte zuständig. Ob sich  diese allerdings lohnt, erscheint zweifelhaft. „Es wäre natürlich begrüßenswert, wenn jemand die Klärung dieser Fälle vorantreiben würde“, so der Anwalt. Allerdings dürften die Hürden sehr hoch liegen. Nach Grützners Erfahrung werden es sich die Behörden einfach machen und die Erstattungsanträge weiter ablehnen; auch die Gerichte erster Instanz dürften seiner Einschätzung nach so verfahren.

„Dann bräuchte man einen Revisionsgrund zum Bundesgerichtshof. Hier steht zunächst entgegen, dass die Frage bereits höchstrichterlich entschieden scheint. Dass die Entscheidung bereits sehr alt ist, genügt als Revisionsgrund nicht. Ansetzen könnte man aber mit dem Argument, dass ein solcher Pandemiefall von der Entscheidung gar nicht erfasst ist.“

Doch traut sich tatsächlich ein niedergelassener Arzt, auf eigene Kosten einen jahrelangen Rechtstreit mit ungewissem Ausgang zu führen? Die meisten dürften resigniert abwinken. „Eine extrem unbefriedigende Situation“, findet Grützner.

Das rät der Anwalt

Rechtsanwalt Lars Grützner aus der Kanzlei KLIEMT Arbeitsrecht rät betroffenen Ärzten, zunächst einen Blick in ihre Arbeitsverträge zu werfen. Denn in manchen ist die Anwendung von § 616 BGB ausgeschlossen. Das ist zulässig. „In diesem Fällen dürfte dem Praxisinhaber die Erstattung jedenfalls nicht mit dem Hinweis auf § 616 BGB verwehrt werden.“ Im Zweifel sollten Arbeitgeber sich rechtlich beraten lassen.

Autorin: Ina Reinsch