Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Medizinrecht

Der Countdown läuft. Ab 1. Januar 2021 wird die neue Heilmittel-Richtlinie in Deutschland wirksam. Die Reform greift damit zwar später als erwartet. Dafür aber überschlagen sich Standesvertreter schon im Vorfeld mit Lob für das neue Regelwerk.

„Klare und einfache Vorgaben lösen die komplizierte Regelfallsystematik und die aufwändige und trotzdem unsichere Bemessung der behandlungsfreien Intervalle ab“, loben die Kassenärztlichen Vereinigungen in zahlreichen Infobroschüren zur neuen Heilmittelverordung. Der Heilmittelkatalog werde überschaubarer und die Verordnung von Heilmitteln einfacher. Alles in allem sei das System künftig „wesentlich besser zu überblicken“. Dies werde zu einer „spürbaren Entlastung“ für Praxisinhaber führen. Doch sind die üppigen Vorschusslorbeeren für die neue Heilmittel-Richtlinie wirklich gerechtfertigt?

Viel Licht, aber auch viel Schatten

Fakt ist: Die Vereinfachung der Heilmittel-Verordnung war seit langem überfällig. Seit Jahren sind die Vorgaben immer komplexer und unübersichtlicher geworden – und zwar sowohl für die Ärzteschaft als auch für die Patienten. Dass der Gemeinsame Bundesausschuss sich mit der neuen Heilmittel-Richtlinie um eindeutige Vorgaben bemüht und den Heilmittelkatalog überschaubarer macht, ist daher grundsätzlich zu begrüßen. Dies gilt umso mehr, als die neue Richtlinie tatsächlich für weniger Bürokratie in deutschen Vertragsarztpraxen sorgen dürfte. Kritiker wie der Abrechnungsexperte Gerd W. Zimmermann vom Deutschen Hausärzteverband kritisieren jedoch, dass die neuen Vorgaben das Regressrisiko für Ärzte steigern könnten. Umso wichtiger ist es, sich möglichst schnell einen Überblick über die Neuerungen zu verschaffen.

Die neue Systematik der Verordnungsfälle

Neu ist zum Beispiel, dass als Bezugsgröße nicht mehr der Regelfall, sondern der Verordnungsfall gilt. Er bezieht sich auf den verordnenden Arzt, die Erkrankung des Patienten und das Verordnungsdatum. Das hat den erfreulichen Effekt, dass Ärzte nicht mehr ermitteln müssen, wieviel Heilmittel andere Kolleginnen oder Kollegen demselben Patienten verordnet haben.

Ein Verordnungsfall umfasst demnach alle verordneten Heilmittel

– aufgrund derselben Diagnose (erste drei Stellen des ICD-10-GM-Codes stimmen überein),

– in derselben Diagnosegruppe laut Heilmittelkatalog,

– beim selben Patienten,

– verordnet durch denselben Arzt,

– innerhalb der letzten sechs Monate.

Die neue Systematik hat den Vorteil, dass Ärzte nicht mehr, wie bisher, ein behandlungsfreies Intervall von zwölf Wochen beachten müssen, bei dem der Bezugspunkt die letzte Behandlung durch den Therapeuten ist. Dieses Verfahren war stets mit erheblichen Rechtsunsicherheiten verbunden, die nun Geschichte sind.

Wenn ein halbes Jahr vergangenen ist, ohne dass derselbe Arzt demselben Patienten Heilmittel aufgrund derselben Diagnose verordnet hat, entsteht ein neuer Verordnungsfall.

Die Praxissoftware speichert das Datum, an dem der Arzt die letzte Heilmittelverordnung ausgestellt hat. Dieses Datum ist auch die maßgebliche Größe für das Entstehen eines (neuen) Verordnungsfalles. Für jeden Fall gibt der Heilmittelkatalog eine orientierende Behandlungsmenge an.

Ein neuer Verordnungsfall kann daher entstehen, wenn

– (mehr als) sechs Monate seit der Verordnung eines Heilmittels für dieselbe Erkrankung vergangen sind,

– der Patient wegen einer neuen Erkrankung Heilmittel benötigt oder

– ein neuer Arzt dem Patienten Heilmittel verordnet.

Wichtig ist allerdings, dass Ärzte sich bei der Verordnung von Heilmitteln weiterhin an Mengenvorgaben orientieren, denn die neuen Regeln legen fest, dass das Behandlungsziel mit der „orientierenden Behandlungsmenge“ erreicht werden soll. Zwar darf der Arzt von dieser Menge abweichen, wenn er einen medizinischen Grund dafür sieht. Das Risiko eines Regresses besteht damit aber fort.

Ärzte sollten Patienten zudem stets danach fragen, ob und wenn ja welche Heilmittel sie schon von Kollegen verordnet bekommen haben, um Dopplungen zu vermeiden.

Heilmittelkatalog wird einfacher

Weitreichende Neuerungen der Heilmittel-Richtlinie betreffen auch den Heilmittelkatalog. Er wurde deutlich gestrafft und übersichtlicher gestaltet, vor allem im Bereich der Physiotherapie. Innerhalb der Diagnosegruppen wird künftig nicht mehr zwischen kurz-, mittel- und längerfristigem Behandlungsbedarf unterschieden. Allerdings müssen Ärzte nun „Höchstmengen je Verordnung” und die bereits angesprochene „orientierende Behandlungsmenge“ beachten. Die Mengen an Vor-Verordnungen für verwandte Diagnosegruppen werden nicht mehr einbezogen und Wechsel zwischen verwandten Diagnosegruppen überflüssig.

Mehr Verordnungsoptionen

Ab Januar 2021 haben Ärzte zudem die Möglichkeit, auf der Verordnung mehrere Leitsymptomatiken anzugeben oder bis zu drei vorrangige Heilmittel zugleich zu verordnen. Auch können Ärzte die Verordnung als dringlich markieren. Besteht kein dringlicher Behandlungsbedarf, bleibt die Verordnung nicht wie bisher nur 14 Tage, sondern 28 Tage lang gültig. Das soll Patienten mehr Zeit geben, den richtigen Heilmitteltherapeuten zu finden und einen Termin zu vereinbaren. Abrechnungsexperte Zimmermann warnt jedoch: Wenn künftig nur noch zwischen „vorrangigen“ und „ergänzenden“ Heilmitteln unterschieden werde, entstünden auch neuartige Möglichkeiten für eine Verordnungsprüfung.

Endlich nur noch ein Formular

Erfreulich ist, dass Ärzte ab dem neuen Jahr nur noch ein Formular ausfüllen müssen. Die Verordnungsformulare 13, 14 und 18 werden durch ein neues, einheitliches Formular 13 ersetzt. Dieses gilt für die Verordnung sämtlicher Heilmittel, von der Physio- über die podologische Therapie, von Stimm-, Sprech-, Sprach und Schlucktherapie bis zu Ergo- und Ernährungstherapie.

Die Diagnosegruppe und die Leitsymptomatik werden voneinander getrennt notiert. Da die alten Muster dann nicht mehr verwendet werden dürfen, sollten Praxisinhaber, falls noch nicht geschehen, zeitnah die neuen Formulare bestellen.