Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Pädiatrie

Eine halbe Million Minderjährige in Deutschland trägt regelmäßig Verantwortung für die Pflege und Versorgung eines chronisch kranken oder pflegebedürftigen Familienmitglieds. In der Forschung werden sie als „Young Carers“ bezeichnet. „Oft liegt eine multiple Sklerose der Mutter oder eine rheumatische Erkrankung vor, die dazu führt, dass schon junge Kinder im Alltag mithelfen müssen“, berichtet Prof. Sabine Metzing, Pflegewissenschaftlerin an der Universität Witten/Herdecke. Sie hat unter anderem betroffene Kinder, Jugendliche und deren Eltern interviewt.

Rollenumkehr mit Grenzerfahrung: Was das für Kinder bedeutet

Die Aufgaben reichen vom Einkaufen, Kochen und Putzen bis hin zur Mobilisation, Hilfe beim An- und Ausziehen, teils auch Intimpflege. „Zehn Prozent der Befragten gaben an, pflegerische Tätigkeiten im Intimbereich zu übernehmen“, so Metzing. Hier, das haben die Interviews gezeigt, ist eine Grenze überschritten: „Wenn Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklungs- und Identitätsfindungsphase in eine solche Rollenumkehr gedrängt werden, erfüllt sie das oft mit großem Unbehagen“, schildert Metzing. Nicht immer nehmen Eltern das wahr. So sprach eine Mutter, die regelmäßig von ihrer Tochter geduscht wurde, von einer „guten Zeit unter Frauen“, während die 14-jährige Tochter gerne darauf verzichtet hätte.

Altersgerechte Last überschritten

„Auch wenn es Pflegegeld gibt, wird damit nicht immer professionelle Hilfe finanziert“, erklärt Metzing. Einige Familien gleichen damit Einkommensausfälle aus – viele Kinder tragen dies mit, denn vielleicht wird so ein gemeinsamer Ausflug möglich. Viele Young Carers haben wenig Zeit für soziale Kontakte oder Hobbys. Daten sind rar, doch eine britische Studie von Dearden und Becker (2004) zeigte, dass 15 Prozent der Kinder bis zu fünf Stunden pro Woche zuhause im Einsatz waren, ein Drittel sechs bis zehn Stunden und ein weiteres Drittel elf bis 20 Stunden. 18 Prozent leisteten sogar mehr als 20 Wochenstunden, um ihren Eltern zu helfen. Die altersgerechte Last wird also vielfach überschritten. Konzentrationsprobleme in der Schule ist eine naheliegende Folge, manchmal kommt es zu Fehlzeiten oder zum Schulabbruch. Young Carers wirken reif, zuverlässig und hilfsbereit. Bisweilen tragen sie Gefühlsausbrüche oder depressives Verhalten des leidenden Elternteils mit. Schlafstörungen, Stress, Ängste sowie Rückenprobleme durch schweres Heben sind mögliche Folgen.

Nachfragen und weiterleiten

Für Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte sei es entscheidend, gezielt nach der häuslichen Situation zu fragen. „Eine sorgfältige Anamnese, verbunden mit Fragen wie ‚Wie geht es zu Hause? Wer ist da? Braucht jemand Hilfe?‘, kann viel bewirken“, so Metzing. Die Betroffenen suchen selten Unterstützung – aus Angst vor Stigmatisierung oder weil sie ihre Rolle als normal empfinden. Ärztinnen und Ärzte haben hier eine Schlüsselrolle, indem sie hinschauen, beraten und weiterleiten – auch ohne standardisierte Verfahren. „Entscheidend ist, dass die Sorgen dieser Kinder ernst genommen werden.“

Hilfsangebote sind begrenzt und regional ungleich verteilt

Neben wenigen lokalen Gruppen, meist von privaten Initiativen getragen, existieren bundesweite Projekte wie die „Pausentaste“ des Bundesgesundheitsministeriums (pausentaste.de) — vielen jedoch unbekannt. Hürden schafft auch die Gesetzeslage: Familien mit Kindern über zwölf Jahren verlieren den Anspruch auf eine Haushaltshilfe, eine Lücke, die oft die Jugendlichen schließen. Es gibt also auch politischen Handlungsbedarf: Wer junge Pflegende allein lässt, gefährdet Bildungsweg, Gesundheit und soziale Entwicklung — mit langfristigen Folgen für das gesamte System.

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