Traumatisierte Geflüchtete: So gelingt der Umgang mit Hilfesuchenden
A&W RedaktionWenn flüchtende Menschen ankommen, müssen viele Wunden heilen. Welche Besonderheiten gibt es im Kontakt mit Menschen aus der Ukraine und wie spricht man über Dinge, die kaum auszuhalten sind? Was Ärztinnen und Ärzte beachten können, wenn Betroffene in ihrer Praxis vorstellig werden.
Wohnungen, Krankenhäuser und Schulen wurden zerbombt. Kinder mussten ihre Väter zurücklassen. Denn 18- bis 60-jährige Männer dürfen laut ukrainischem Kriegsrecht nicht ausreisen. Die Kleinen harrten mit ihren Müttern tagelang in langen Schlangen in der Kälte aus. Manche sind wie erstarrt, sprechen nicht mehr. Bei anderen fließen immer wieder Tränen. Sie alle, Kinder wie Erwachsene, benötigen traumasensible Hilfe.
Rund sieben Millionen Menschen aus der Ukraine haben ihre Heimat seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 verlassen, teilt das UN-Flüchtlingshilfswerk mit. Bis Ende Mai hatten knapp 802.500 von ihnen Deutschland erreicht. Die Bundespolizei geht dabei von einer hohen Dunkelziffer aus. „Die Menschen sind erschöpft, wenn sie ankommen. Sie brauchen ein Bett, warmes Essen, ein liebes Wort“, sagt Ekaterina Momotova, ukrainisch-russisch-stämmige Linguistin und Musikerin aus Hamburg. Anfang März 2022 begleitete sie drei Brüder sowie eine junge Mutter mit dreijährigem Sohn bei der Bahnfahrt von Augsburg nach Hamburg. „Eine der ersten Fragen war: Wie müssen wir uns verhalten, um hier alles richtigzumachen?“, schildert Momotova. „Da habe ich unter anderem erklärt: Den Menschen in Deutschland ist es wichtig, dass Masken über die Nase gezogen werden.“ Sofort und gerne wurde das umgesetzt.
Besonderheiten beim Impfen
Aus medizinischer Sicht drängt insbesondere bei Sammelunterkünften das Impfen (STIKO Impfempfehlungen für Migranten und Migrantinnen sowie Schutzsuchende im Epidemiologischen Bulletin 4/22, S. 38 ff.). Nicht nur das Corona-Infektionsrisiko ist groß. Auch Masern- und Polio-Ausbrüche werden befürchtet. Die Global Polio Eradication Initiative (GPEI) geht von vielen ungeimpften Kindern aus. Dennoch sollte für die Geflüchteten klar erkennbar sein, dass diese Angebote freiwillig sind – damit Vertrauen entstehen kann. „Für ankommende Menschen aus der Ukraine kann es beängstigend wirken, wenn sie sich zu Impfungen gedrängt fühlen“, erklärt Momotova. „Die Menschen in Osteuropa empfinden Impfentscheidungen als wichtigen Teil ihrer Selbstbestimmung.“ Auch Fürths Oberbürgermeister Thomas Jung (SPD) schilderte gegenüber dem Bayerischen Rundfunk: „Viele Menschen, die hier ankommen, haben panische Angst vor Zwangsimpfungen.“ Gerade aber nach einem Erleben von Ohnmacht und existenzieller Bedrohung ist das Gefühl von Kontrolle über den eigenen Körper ein wichtiges Element der Stabilisierung.
Tief erschüttertes Vertrauen
Beabsichtigte Gewalt durch andere Menschen (Typ-II-Trauma) hinterlässt tiefere Wunden in der Seele als eine Naturkatastrophe (Typ-I-Trauma). Darauf weist die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF e.V.) hin. Durch Kriegserfahrung wird das Vertrauen in andere Menschen erschüttert. Die Welt erscheint feindseliger und unberechenbarer – umso mehr, je komplexer und massiver die Traumata waren. Das Gefühl der Bedrohung und die Angst vor Überwältigung zu lindern, funktioniert am besten mithilfe von Muttersprachlern. „Fast alle Menschen in der Ukraine sprechen auch russisch“, sagt Ekaterina Momotova. Nach Möglichkeit sollte dennoch zuerst nach ukrainischen Sprachmittlern und -mittlerinnen gesucht werden. „Menschen aus dem eigenen Land können Ängste am besten verstehen und helfen, mit ihnen umzugehen.“
Meiden von Menschen: PTSD?
Traumatisierte Menschen leiden oft unter einem anhaltend hohen Stressniveau. Nervosität, Schreckhaftigkeit, aber auch eine erhöhte Reizbarkeit können Ausdruck dieser Anspannung sein. Die chronische Stressreaktion steigert das Risiko von psychischen Erkrankungen, aber auch von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Somatoforme Störungen wie Schmerzen, Schwindel oder Verdauungsbeschwerden können als Reaktion auf die dauerhafte Anspannung der Muskeln auftreten.
Bestimmte Reize wie beispielsweise Uniformen oder auch Gerüche können sogenannte Flashbacks auslösen. Um das zu vermeiden, ziehen sich einige Betroffene immer mehr zurück und schotten sich ab. Dieses Verhalten kann ein Hinweis auf ein Posttraumatisches Belastungssyndrom (PTSD) sein, insbesondere bei parallel auftretenden Schlafstörungen und schweißgebadetem Aufwachen aus Albträumen. PTSD trifft rund ein Drittel der Geflüchteten weltweit. 30 Prozent entwickeln eine depressive Erkrankung. Eine möglichst frühzeitige psychotherapeutische Unterstützung verkürzt die Leidenszeit und beugt Chronifizierung vor.
Im Ermessen der Sozialbehörden
Zu Beginn brauchen geflüchtete Menschen die Information, dass sie ein Anrecht auf ein vertrauliches Gespräch haben und dass sich auch Sprachmittler und -mittlerinnen an die Schweigepflicht halten müssen. Letztere sind oftmals nötig, um eine sinnvolle Beratung oder gar Psychotherapie durchzuführen. Regionale Sprachmittler und -mittlerinnen werden bisweilen über gemeinnützige Vereine vermittelt und durch öffentliche Gelder finanziert. Ein Nachfragen bei der Ärztekammer kann sich lohnen. Wenn ein Anspruch auf „sonstige Leistungen“ nach dem Asylbewerberleistungsgesetz jenseits von akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen besteht, ergibt sich daraus auch ein Anspruch auf Übernahme der Dolmetscherkosten. Das ist dann der Fall, wenn die Hinzuziehung zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich ist. Diese Einzelfallentscheidung liegt im Ermessen der Sozialbehörden.
Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF e.V.) kritisiert die oftmals langen Bearbeitungszeiten der Sozialbehörden. „Sollte innerhalb von sechs Monaten nicht entschieden worden sein, kann beim zuständigen Sozialgericht eine Untätigkeitsklage erhoben werden“, informiert die BAfF. Bei dringendem Behandlungsbedarf kommt auch vor Ablauf dieser Frist ein Eilantrag in Betracht. Auf positive Entwicklungen darf gehofft werden. Wenn das aufnehmende Bundesland und die Kommune eine Rahmenvereinbarung mit den Kassen für die „auftragsweise Betreuung“ schließen, sind auch Leistungen der Krankenversicherung möglich, teilte der GKV-Spitzenverband jüngst mit.
Vertrauen wächst nicht über Nacht
Dolmetscher und Sprachmittler sollten für das medizinische oder therapeutische Setting geschult sein. Neutralität, akkurate Übersetzungen und Achtsamkeit für die eigenen emotionalen Reaktionen sind Voraussetzungen. Bei starken Erregungszuständen des Patienten oder der Patientin ist ein Hinweis auf die tiefe Bauchatmung hilfreich und leicht verständlich. Einige Entspannungsübungen bergen hingegen Tücken. Allein das Schließen der Augen kann zu Flashbacks und Dissoziation führen. Mit letzterer schützt sich die Psyche vor Überwältigung. Zeitweise kommt es dabei zu einer Empfindungslosigkeit oder zum Eindruck, von der Umgebung (Derealisation) oder vom eigenen Körper (Depersonalisation) getrennt zu sein. Wird der Blick leer und reagiert die Person auch nach mehrmaligem, ruhigem Ansprechen nicht mehr, können Sinnesreize helfen, ins Hier und Jetzt zurückzukehren: ein kalter, nasser Lappen auf den Händen, ein Igelball zum Kneten oder ein starkes Pfefferminzbonbon. Halten Sie Kontakt und vermitteln Sie: Hier und jetzt ist alles in Ordnung.
Sollten Symptome, die auf eine Traumafolgestörung hindeuten, auch nach Wochen nicht rückläufig sein, empfiehlt sich spätestens dann eine Weitervermittlung in spezialisierte Einrichtungen und Netzwerke. Psychosoziale Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (PSZ) arbeiten mit einem multimodalen Ansatz. Neben Psychotherapie erhalten Geflüchtete dort auch psychosoziale Beratung, sie können an kreativen und sozialen Aktivitäten teilnehmen. So entsteht eine erste soziale Einbettung. Andere Geflüchtete können den neu Ankommenden helfen und Orientierung im Alltag geben. Das spart weitere Hilflosigkeit und Ohnmachtsgefühle. Unter Umständen ergibt sich hier auch die Möglichkeit, sich privat über das Erlebte auszutauschen. Voraussetzung ist, dass sich die Beziehungen festigen können. „Vertrauen wächst nicht über Nacht“, betont Ekaterina Momotova.
Stärken- und Resilienzorientierung
Damit das Leben weitergehen kann, braucht es zudem einen Perspektivenwandel: Trotz widrigster Umstände hat es dieser Mensch geschafft zu überleben und bis hierher zu kommen. Das eröffnet die Frage: Welche Fähigkeiten und Ressourcen bringt diese Person mit? Gibt es sportliche oder künstlerische Begabungen, die in Vereinen weitergeführt werden können? Besondere Kenntnisse? Auch bei Freizeitangeboten gilt: informieren, nicht drängen. Wichtig ist die Erfahrung, das eigene Leben nun wieder gestalten und planen zu können, nach den eigenen Bedürfnissen. Langfristig mildert allerdings der Aufbau von Ressourcen Ängste und Unsicherheiten.
Ruhe und Frieden sind Grundbedürfnisse flüchtender Menschen. Viele von ihnen haben tatsächlich enge persönliche Kontakte mit dem „Brudervolk“, freundschaftlich oder familiär. Das mache die aktuellen Ereignisse noch schwerer begreiflich, sagt Ekaterina Momotova.
Ihre ukrainische Großmutter Valentina aus Kolosovka bei Odessa traf einst ihren russischen Großvater Victor aus Rostov am Don bei einer Bahnfahrt. „50 Jahre lang waren sie ein wunderbares Paar“, erzählt Momotova. Letzten Endes wird auch die Heilung der nun entstandenen, tiefen seelischen Wunden Verbundenheit brauchen.
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Autorin: Deborah Weinbuch