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Arzthaftungsrecht
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Ein Therapiefehler liegt nach ständiger Rechtsprechung dann vor, wenn von dem medizinisch gebotenen Standard abgewichen wird. Dabei geht es nicht um einen abstrakten Durchschnittsmaßstab, sondern immer um die konkrete Behandlungssituation: Entscheidend ist, ob die gewählte Therapiemaßnahme im konkreten Fall medizinisch indiziert war und fachgerecht – also nach den Regeln der ärztlichen Kunst (lege artis) – durchgeführt wurde. Zur Beurteilung wird auf die zum Zeitpunkt der Behandlung anerkannten Standards im jeweiligen medizinischen Fachgebiet abgestellt, basierend auf dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft.

Bestimmung von Facharztstandards

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) setzen sich die betreffenden Standards aus den Facharztstandards des infrage kommenden Fachgebiets und aus den allgemeinen medizinischen Grundkenntnissen, die ebenfalls beachtet werden müssen, zusammen.

Bei der Prüfung eines tatsächlichen oder behaupteten Therapiefehlers wird als Maßstab ein gewissenhafter und sorgfältiger Arzt herangezogen, der die anerkannten Facharztstandards seines Fachgebiets kennt und entsprechend handelt. Gibt es für die konkrete Behandlungssituation keine einheitlichen, allgemein anerkannten Standards – oder stehen mehrere fachlich gleichwertige Vorgehensweisen zur Verfügung –, liegt ein Therapiefehler nur dann vor, wenn die gewählte Maßnahme mit keinem dieser fachlich anerkannten Standards vereinbar ist.

Überschreitet ein Arzt die Grenzen seines Fachgebiets, wird die Prüfung, ob dem betreffenden Arzt ein Therapiefehler unterlaufen ist, nach den Facharztstandards des für den Arzt fremden Fachgebiets vorgenommen. Wie weit das gehen kann, ist nach der konkreten Behandlung und dem vorgeworfenen Therapiefehler zu beurteilen. Die fachspezifische Beurteilung erfolgt von einem Facharzt, der zum gleichen Fachgebiet angehört, wie der behandelnde Arzt, dessen tatsächlicher oder angeblicher Therapiefehler zu prüfen ist.

Auswahl von Sachverständigen: Hier sollten betroffene Ärzte genau hinschauen

Bei einem gerichtlichen Verfahren ist es entscheidend, dass das Gericht einen Sachverständigen aus dem richtigen Sachgebiet bestimmt. Unterlaufen dem Gericht hier Fehler, wenn z. B. ein Facharzt eines fremden Sachgebiets als Sachverständiger ausgewählt wird, überschreitet das Gericht sein Ermessen bei der Wahl des gerichtlichen Sachverständigen.

Aber auch in den Fällen, in denen ein Sachverständiger aus dem zutreffenden Fachgebiet ausgewählt worden ist, sollte dem Auswahl des Sachverständigen die größte Aufmerksamkeit gewidmet werden. So kann es sein, dass das Gericht einen Theoretiker, wie z. B. einen universitären Professor, als den gerichtlichen Sachverständigen bestimmt, der mit den praktischen Problematiken des konkreten Falles und des vorgeworfenen Therapiefehlers nicht unbedingt vertraut ist.

Das Gleiche gilt, wenn das Gericht einen Facharzt als den gerichtlichen Sachverständigen auswählt, der in seiner Praxis grundlegend andere Therapiemethoden anwendet, welche mit dem Therapieansatz des behandelnden Arztes nicht übereinstimmen. In beiden Fällen sollte vom behandelnden Arzt und bzw. oder von seinen Bevollmächtigten geprüft werden, ob der gerichtlich vorgeschlagene Sachverständige für die Prüfung des dem behandelnden Arzt vorgeworfenen Therapiefehlers tatsächlich geeignet ist.

Zu beachten ist, dass die Entscheidung über das Vorliegen eines vorwerfbaren Therapiefehlers im gerichtlichen Verfahren beim Gericht liegt. Grundlage dieser Entscheidung ist jedoch regelmäßig das Gutachten eines vom Gericht bestellten Sachverständigen. Erweist sich im Nachhinein, dass der Sachverständige den Fall unzutreffend erfasst oder medizinisch nicht korrekt bewertet hat, lässt sich dieser Fehler meist nur schwer korrigieren – etwa durch ein ergänzendes Gutachten. Die ursprüngliche Einschätzung hat in der gerichtlichen Praxis erhebliches Gewicht.

Leitlinien, Empfehlungen und Richtlinien

In einem gerichtlichen Verfahren bestimmt der Sachverständige, welche Facharztstandards in dem konkret zu beurteilenden Fall gelten. Dabei hat der Sachverständige ein mehr oder weniger weites Ermessen, welche Grundlagen er zur Bestimmung der konkret geltenden Facharztstandards heranzieht. Infrage kommen hier sowohl Leitlinien und Empfehlungen von bestimmten Facharztgremien oder Verbänden als auch gesetzlich vorgegebene Richtlinien von Bundesausschüssen, z. B. des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 92 Sozialgesetzbuch V (SGB V).

Leitlinien von Facharztgremien oder Verbänden können zwar die Facharztstandards wiedergeben, müssen es aber nicht, insbesondere wenn es sich um Leitlinien handelt, die bereits Jahre zuvor verabschiedet worden sind. Das Gleiche gilt, wenn bestimmte Leitlinien erst nach der zu prüfenden Behandlung bekanntgegeben wurden: in diesem Fall können sie Facharztstandards wiedergeben, die sich erst nach dem zu beurteilenden Fall herausgebildet haben.

Begründet ein gerichtlich bestimmter Sachverständiger die von ihm angenommenen Facharztstandards mit bestimmten Leitlinien von Facharztgremien oder Verbänden, muss nach der Rechtsprechung des BGH festgestellt werden, ob diese Leitlinien zum Behandlungszeitpunkt bekannt waren und tatsächlich den zu dieser Zeit geltenden Facharztstandards entsprachen. Kann beides bejaht werden, muss anschließend geprüft werden, ob eine Abweichung von betreffenden Leitlinien einen Therapiefehler begründet hat, die vom behandelnden Arzt dann entkräftet werden müsste.

Abweichen von medizinischen Leitlinien nicht automatisch ein Therapiefehler

Ein Abweichen von medizinischen Leitlinien stellt nicht automatisch einen Therapiefehler dar. Dennoch muss dem behandelnden Arzt bewusst sein, dass der Patient vor Beginn der Behandlung umfassend und rechtzeitig darüber aufzuklären ist, wenn eine Abweichung aus bestimmten, konkret zu benennenden Gründen beabsichtigt und im Einzelfall medizinisch geboten ist. Unterbleibt eine solche Aufklärung oder erfolgt sie verspätet oder unzureichend, kann es im Streitfall erheblich schwieriger werden, den Vorwurf eines Therapiefehlers zu entkräften – insbesondere dann, wenn auch die Aufklärung oder die Behandlung selbst nicht ausreichend dokumentiert worden sind.

Anders zu beurteilen sind die gesetzlich vorgeschriebenen Richtlinien gemäß §§ 91 ff. SGB V. Diese besitzen eine höhere rechtliche Verbindlichkeit als medizinische Leitlinien oder Empfehlungen, die von Fachgesellschaften oder Berufsverbänden herausgegeben werden. Wurden solche Richtlinien ordnungsgemäß erlassen, stellt eine Unterschreitung der darin festgelegten Standards grundsätzlich einen Rechtsverstoß dar.

Dr. jur. Alex Janzen

Fachanwalt für Steuerrecht, Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht, Rechtsanwaltskanzlei Dr. jur. Alex Janzen

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