Suchterkrankung bei Ärzten: Wege aus der Abhängigkeit
Deborah WeinbuchDer Weg in die Sucht ist schleichend. Gerade Menschen, die gewohnt sind, viel zu leisten und immer für andere da zu sein, können in eine Suchtmittelabhängigkeit geraten. Professionelle Hilfe steigert dann die Chancen auf einen dauerhaften Ausstieg, erklärt Chefarzt Dr. Maximilian Deest von den Oberberg Kliniken.
Am Anfang stehen oft große Herausforderungen: belastende Ereignisse am Arbeitsplatz, der Verlust der eigenen Gesundheit oder Leistungsfähigkeit, nicht zuletzt aufgrund des ständigen Schlafmangels. Wer sich selbst als Leistungsträger kennt und seine Patienten nicht im Stich lassen will, sucht dann unter Umständen nach einer schnellen Lösung. Und unsere Kultur lehrt uns, dass diese im Konsum bestimmter Substanzen liegen kann.
Gerade Menschen, die darauf geeicht sind, stets zu funktionieren, teilen sich anderen oft nicht wirklich mit und gönnen sich zu wenig Pausen. Nach außen hin wirkt alles aufgeräumt, selbst wenn das innere Leid groß ist. Doch diese emotionale Isolation kann die schleichende Entwicklung einer Sucht begünstigen – und diese führt noch tiefer in die Einsamkeit. Denn je mehr eine Substanzabhängigkeit von einem Menschen Besitz ergreift, desto weniger erscheint noch wichtig. Für das soziale Umfeld wird der Umgang mit dem Betroffenen zum Teil überfordernd, viele ziehen sich zurück. Die Sucht treibt einen Keil zwischen Abhängige und Angehörige.
Suchtkranke sind kreativ darin, ihre Abhängigkeit zu verbergen, sogar vor sich selbst. Eine erhöhte Toleranzschwelle ermöglicht es ihnen, trotz des Konsums lange Zeit scheinbar gut zu funktionieren. Im Beruf wie privat kann es aber allmählich zu Unzuverlässigkeit kommen: Termine werden vergessen, Nachrichten nicht beantwortet. Tragisch ist es, wenn die Patientensicherheit gefährdet ist.
Was den Ausstieg enorm erleichtert, ist eine medizinische Suchtbehandlung. Auf diese sind die Oberberg Kliniken für Abhängigkeitserkrankungen spezialisiert. Dr. Maximilian Deest, Chefarzt der Oberberg Fachklinik Weserbergland, erklärt, wie insbesondere Ärztinnen und Ärzte in eine Abhängigkeit rutschen und wie sie darüber wieder hinauswachsen können.
Hoher Anteil von Suchterkrankungen bei Ärztinnen und Ärzten
Etwa sieben bis acht Prozent der Ärztinnen und Ärzte erkranken nach Schätzungen der Bundesärztekammer (BÄK) im Laufe ihres Lebens an einer Abhängigkeitserkrankung. Das ist überdurchschnittlich viel, denn in der Allgemeinbevölkerung sind rund 3,4 Prozent betroffen, wie aus dem Jahresbericht 2021 der Drogenbeauftragten der Bundesregierung hervorgeht. Das häufigste Suchtmittel ist Alkohol, gefolgt von beruhigenden Medikamenten. Wenn sich Ärztinnen und Ärzte für einen Entzug entscheiden, ist allerdings die Abstinenzquote mit 70 bis 80 Prozent überdurchschnittlich hoch.
Herr Dr. Deest, warum ist der Anteil an Abhängigkeitserkrankungen unter Ärztinnen und Ärzten so hoch?
Dr. Deest: Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus verschiedenen Faktoren. Ärztinnen und Ärzte haben eine sehr hohe Arbeitsbelastung und einen verantwortungsvollen Beruf. Druck, lange Arbeitszeiten und traumatische Erlebnisse können eine Rolle spielen. Ein weiterer Faktor ist die leichte Verfügbarkeit von Medikamenten während der Arbeitszeit. So kann es passieren, dass sich schleichend eine Sucht entwickelt.
Wie ist der typische Beginn einer Suchterkrankung?
Dr. Deest: Ein klassisches Beispiel sind Schlafstörungen durch die Schichtarbeit. Manchmal scheint dann ein Glas Wein am Abend eine gute Lösung zu sein. Das steigert sich dann unbemerkt, bis man irgendwann zwei Flaschen Wein am Abend braucht, um zu entspannen. Dieser Prozess zieht sich oft über Jahre hin. Auch bei Medikamenten fängt es oft mit kleinen Mengen an, die dann langsam gesteigert werden. Selbst wenn der Konsum für andere schon auffällig ist, findet oft noch eine Verdrängung statt: „Ich habe das im Griff.“
Welche Faktoren fördern den Griff zur Substanz?
Dr. Deest: Ärztinnen und Ärzte haben oft einen sehr hohen Funktionsanspruch an sich selbst. Sie wollen für ihre Patientinnen und Patienten da sein. Das kann so weit gehen, dass sie Dinge in Kauf nehmen, von denen sie wissen, dass sie der Gesundheit nicht zuträglich sind. Hinzu kann eine mechanistische Sichtweise kommen: Wenn ich Problem A habe, hilft Mittel B – zumindest kurzfristig. Oft fehlt auch objektiv die Zeit, sich zwischen Arbeit und Schlaf ausreichend zu entspannen. Und gleichzeitig ist es wichtig, am nächsten Morgen im Job gut zu funktionieren, damit die Patienten versorgt werden können.
Welche Rolle spielen die Arbeitsbedingungen bei der Sucht?
Dr. Deest: Hauptsächlich konsumieren Ärzte beruhigende Substanzen, vor allem Alkohol, gefolgt von Medikamenten wie Opiaten oder Benzodiazepinen. Oft beginnt der Prozess mit Stress auf der Arbeit, Überlastungsgefühlen, Insuffizienzgefühlen oder Angst. Abends dreht sich vielleicht das Gedankenkarussell im Kopf: „Habe ich irgendetwas übersehen?“ Um zur Ruhe zu kommen, wird dann zur Substanz gegriffen. Hier andere Wege zu finden, ist ein Teil der Suchttherapie.
Wie sieht die Suchttherapie genau aus?
Dr. Deest: Sie folgt einem Stufenmodell. Die erste Phase ist die Entgiftungsbehandlung, in der die akuten Intoxikationssymptome und die Entzugssymptome behandelt werden. Diese Phase wird bei uns in der Klinik engmaschig psychotherapeutisch betreut und medikamentös unterstützt, damit der Entzug für die Betroffenen nicht so schwer ist. Dadurch sind die Erfolgsaussichten deutlich besser.
Die Entzugssymptome werden also gelindert?
Dr. Deest: Ja, und dennoch muss gesagt werden: Ein Entzug ist psychisch und physisch immer anstrengend. Aber therapeutisch begleitet verläuft diese Phase deutlich besser. Danach geht es in die Entwöhnungsphase: Hier wird auch nach Komorbiditäten geschaut: Was ist der Grund für die Sucht? Oft treten Depressionen oder Angsterkrankungen komorbid auf. Die müssen natürlich mitbehandelt werden. Darüber hinaus bieten wir Trainings an, in denen Abstinenzkompetenz erworben wird.
Wie wird denn die Abstinenz nach dem Aufenthalt gefördert?
Dr. Deest: Das ist Sache der ambulanten Nachsorge als dritte Stufe der Suchttherapie. Suchterkrankungen sind chronische Erkrankungen. Die Nachsorge kann aber das Rückfallrisiko minimieren, zum Beispiel durch Selbsthilfegruppen, suchtmedizinische Weiterbehandlung und ambulante Psychotherapie. Das versuchen wir hier in der Klinik zu organisieren. Denn je dichter das Netz geknüpft ist, desto seltener fallen die Patienten zurück in den Konsum.
Sucht: Kaputte Beziehungen wieder kitten
LEin wichtiger Schritt für ein dauerhaft abstinentes Leben ist der Wiederaufbau von Beziehungen zu nahestehenden Menschen, die durch die eigene Sucht verletzt wurden. Tiefe und ehrliche Gespräche, bei denen man wirklich präsent ist, vielleicht auch gemeinsam weint, helfen, die durch die Sucht unterbrochene Kommunikation wiederherzustellen. Oft verdienen die Angehörigen auch eine Entschuldigung für die erhöhte Reizbarkeit oder das Desinteresse während der akuten Sucht. Wenn Vergebung möglich ist, kann auch wieder gemeinsam gelacht werden.
Wie kann das soziale Umfeld die Abstinenz unterstützen?
Dr. Deest: Beim Alkohol spielt der Partner oder die Partnerin eine entscheidende Rolle. Trinkt er oder sie weiter, verschlechtert das die langfristigen Erfolgsaussichten des Suchterkrankten erheblich. Außerdem üben wir mit unseren Patientinnen und Patienten: Wie gehe ich damit um, wenn ich dem Suchtmittel ausgesetzt bin? Abends im Restaurant wird man beinahe automatisch gefragt: Welchen Wein möchten Sie? Dann hilft es, gleich proaktiv anzusprechen, dass man ein Wasser oder eine Schorle trinkt und die Weinkarte nicht benötigt.
Was tun, wenn akuter Suchtdruck entsteht?
Dr. Deest: Solche Situationen wird es immer wieder geben. Für diese Momente brauchen die Betroffenen eine Strategie, um damit umzugehen. Dazu kann gehören, sich den Zugang zum Suchtmittel zu erschweren. Wenn es beispielsweise um Medikamente geht, haben wir schon mit Kolleginnen und Kollegen darüber gesprochen, dass sie ihren Arztausweis abgeben. So können sie nicht einfach in die Apotheke gehen und sich die Medikamente aushändigen lassen.
Sollten bestimmte Situationen gemieden werden?
Dr. Deest: Das macht Sinn. Denn das Belohnungssystem im Gehirn wird sehr schnell durch Triggerfaktoren aktiviert, selbst durch solche, die wir gar nicht erwarten. Das können beispielsweise Gerüche sein, die wir mit Alkohol verbinden – wie der Duft von gebrannten Mandeln und Maronen auf dem Weihnachtsmarkt. In diesem Fall hilft es, ebendiese Situation zu meiden.
Ritualisierter Alkoholkonsum in der Gesellschaft
In unserer Kultur gehört Alkohol scheinbar zur Geselligkeit und zur Entspannung dazu. Es fehlen hierzulande Veranstaltungen, die bewusst alkoholfrei stattfinden. In Großbritannien gibt es zum Beispiel die Claritee Group, die unter dem Motto „Be the Spirit“ alkoholfreie Firmen-events und weitere Veranstaltungen organisiert. Initiativen dieser Art könnten auch hier dazu beitragen, ein suchtfreies Leben zu fördern.
Wer in Gesellschaft nicht trinkt, wird oft geradezu gedrängt oder soll sich sogar rechtfertigen …
Dr. Deest: Das kommt immer noch vor. Mittlerweile wird es aber je nach Umfeld zunehmend akzeptiert, dass einige Menschen keinen Alkohol trinken. Manche Patienten sagen einfach: Ich darf aus gesundheitlichen Gründen nichts trinken. Das stimmt ja auch und wird in den meisten sozialen Kontexten nicht weiter hinterfragt.
Wie lange leben Betroffene mit ihrer Sucht, bevor sie Hilfe suchen?
Dr. Deest: Die meisten Ärztinnen und Ärzte leben vier bis sechs Jahre mit einer Sucht, bevor sie sich in den Entzug begeben. Auslöser können dann Konflikte in der Partnerschaft sein oder Konflikte am Arbeitsplatz mit möglichen berufsrechtlichen Konsequenzen. Häufig wird das Problem in diesem Moment noch von den Betroffenen selbst bagatellisiert.
Ausstiegsprogramme der Ärztekammern für suchtkranke Ärzte
Hier können sich Ärzte anonym melden; es erfolgt eine vertrauliche Vermittlung an Therapeuten. Falls berufsrechtliche Konsequenzen drohen — etwa wenn ein Arzt betrunken Auto fährt und von der Polizei kontrolliert wird —, informiert die Staatsanwaltschaft die Ärztekammer. Hier kann ein Verfahren zur Überprüfung der weiteren Eignung zur Ausübung des ärztlichen Berufs eingeleitet werden. Es gilt jedoch der Grundsatz „Hilfe statt Strafe“. Die Ausstiegsprogramme informieren über die Kostenerstattung von Suchttherapien und helfen bei der Vermittlung eines Praxisvertreters, um die Genesung und gegebenenfalls Rückkehr in den Beruf zu fördern.
PD Dr. Maximilian Deest
Dr. med. Maximilian Deest
Psychiater und Psychotherapeut
Chefarzt der Oberberg Fachklinik Weserbergland
zuvor Oberarzt an der Medizinischen Hochschule Hannover