Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Praxis

Herr Prof. Sassenberg, warum genießen Verschwörungstheorien gerade jetzt so einen regen Zulauf?

Menschen glauben vor allem dann an Verschwörungstheorien, wenn eine Situation vorliegt, die schwer zu erklären ist, die also komplex ist, Unsicherheit auslöst, möglicherweise sogar bedrohlich ist und für die es nicht ohne weiteres eine konventionelle medizinische oder wissenschaftliche Erklärung gibt. Wir haben im Moment die Situation, dass Virologen zwar sehr gehört werden, sie liefern aber kein konsistentes Narrativ, weil der Kenntnisstand noch nicht so weit ist, dass man die Verbreitung und die gesundheitlichen Folgen des neuartigen Corona-Virus bis zum Letzten durchdrungen hat. Gleichzeitig haben die Leute Angst. Sie erleben Einschränkungen aufgrund staatlicher Maßnahmen. Das schafft optimale Voraussetzungen dafür, dass Menschen an Verschwörungstheorien glauben, die die Situation einfach zu erklären scheinen.

Welche Menschen sind besonders empfänglich für Verschwörungstheorien?

Menschen unterscheiden sich in dem Ausmaß, in dem sie an Verschwörungstheorien glauben. Wer an eine Verschwörungstheorie glaubt, glaubt zumeist auch an andere. Die aktuelle Welle entsteht aber vor allem daraus, dass es Situationen gibt, in denen Menschen anfällig für Verschwörungstheorien sind, wie gerade erwähnt. Zudem neigen Menschen, die grundsätzlich das Schlechte im anderen vermuten, also eine paranoide Neigung haben, mehr dazu, Verschwörungen zu sehen. Letztlich liefern Verschwörungstheorien Erklärungen, die deutlich über das hinausgehen, was tatsächlich vorhanden ist. Es gibt Menschen, die dafür anfälliger sind als andere.

Professor Sassenberg von der Eberhard Karls Universität Tübingen ist Psychologe und Leiter der Arbeitsgruppe Soziale Prozesse am Leibniz-Instituts für Wissensmedien

Psychologe Kai Sassenberg ist Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen und seit 2007 Leiter der Arbeitsgruppe Soziale Prozesse am Leibniz-Institut für Wissensmedien. Er beschäftigt sich mit Emotion, Motivation und Selbstregulation im Zusammenhang mit der Verarbeitung von wahrer und falscher Information. Foto: Paavo Ruch

Woher rührt die Nähe von Verschwörungstheoretikern zur rechtsextremen und Reichsbürgerszene?

Rechtsextreme arbeiten in ihrer gesamten Kommunikation viel mit Verschwörungstheorien. Der Nationalsozialismus beruhte unter anderem darauf, dass behauptet wurde, es gäbe eine „jüdische Weltverschwörung“. Das heute zum Beispiel von der Pegida verwendete Schlagwort der „Lügenpresse“ ist auch nichts anderes als die Annahme einer Verschwörungstheorie. Das rechtsextreme Milieu bedient sich häufig des Narrativs, dass politische Kräfte sich gegen das Volk verschwören, weil es eine leicht aufzubauende Drohkulisse ist.

Wie sollen sich Ärztinnen und Ärzte verhalten, denen in der Sprechstunde ein Patient gegenübersitzt, der beispielsweise behauptet, Corona sei von Bill Gates gemacht?

Ich möchte damit beginnen, was man nicht tun sollte: In einem Sprechstundenkontext mit einem begrenzten Zeitbudget ist es eine schlechte Alternative, die Ansicht des Patienten zu verurteilen und sich seiner Meinung komplett entgegenzustellen. Eine Diskussion um Verschwörungstheorien dauert grundsätzlich sehr lange und ist häufig auch nicht konstruktiv zu führen, weil diese Verschwörungstheorien eine selbstimmunisierende Funktion haben. Das heißt, dass nach der Wahrnehmung derer, die an Verschwörungstheorien glauben, Menschen, die die Verschwörung nicht erkennen, der Verschwörung im Grunde anheimgefallen sind und damit nicht richtig verstehen, wie die Welt funktioniert. Man bringt sich damit sofort ins Abseits und ist für Verschwörungstheoretiker nicht mehr vertrauenswürdig, wenn man die Existenz der Verschwörung in Frage stellt. Es ist genau das, was wir momentan häufig in der Öffentlichkeit erleben. Es gibt eine Konfrontationslinie und Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, werden belächelt. Das ist natürlich das Letzte, womit man sie erreicht. Wenn der Arzt in seiner Sprechstunde seine Behandlung an den Mann bringen möchte und das Vertrauen erhalten will, ist das eine schlechte Wahl.

Was kann der Arzt stattdessen tun?

Es gibt zwei Strategien. Der eine Weg ist, die Verschwörungstheorie tatsächlich zu übergehen. Wenn die Aussage irrelevant für die Behandlung ist, kann man versuchen, sie elegant zu umschiffen. Schwieriger wird es, wenn das Thema für die Behandlung relevant ist. Forschung zu Verschwörungstheorien legt nahe, dass es ganz zentral ist, Vertrauen auszubauen. Es ist wichtig, dem Glauben des Patienten nicht entgegenzutreten und zu sagen: „Das ist falsch, was Sie sagen.“ Besser ist es, zu sagen: „Der Behandlungsvorschlag, den ich mache, dem würde ich selber auch folgen und das würde ich auch meinen Angehörigen raten.“ Es ist hilfreich, sehr stark auf die persönliche Ebene zu gehen. Wenn ich mit einer konkreten Verschwörungstheorie eines Patienten konfrontiert bin, kann ich zum Beispiel entgegnen „Ich habe die Patienten gesehen, sie haben schwerwiegende Symptome, sie könnten daran sterben und meiner Erfahrung nach hilft diese oder jene Behandlung.“ Eine Diskussion um die Herkunft des Virus sollte an dieser Stelle vermieden werden, weil sie für die Frage der Gesundheit eines Patienten irrelevant ist.

Haben rationale Argumente überhaupt eine Chance?

Nein. Die Verschwörungstheorie ist eine eigene Realität und die Personen glauben, dass es ein öffentliches Narrativ gibt, welches Teil dieser Verschwörung ist. Sie glauben, diejenigen, die diese angebliche Verschwörung vorantreiben, würden der Öffentlichkeit Unwahrheiten erzählen, die die Mehrheit dann glaubt. Sobald man sich der „offiziellen“ Argumente bedient, ist man aus Sicht der Verschwörungsgläubigen leider der Verschwörung zum Opfer gefallen. Damit ist man für sie kein ernstzunehmender Gesprächspartner mehr. Es ist eine Argumentation mit anderen „Realitäten“.

Wie können Ärzte reagieren, wenn ein Verschwörungsanhänger gesundheitlich unvernünftige Entscheidungen trifft, also zum Beispiel als Risikopatient eine Grippeschutz-Impfung ablehnt?

Ärzte können auf die persönliche Ebene gehen. Man erreicht am meisten, wenn man Verständnis für den Gedanken des Patienten signalisiert. Man kann auch ganz individuell für so eine Impfung argumentieren, etwa, indem man sagt. „Ich habe in meiner Karriere noch nicht erlebt, dass es negative Konsequenzen hatte, wenn sich jemand hat impfen lassen.“ Es hilft auch, ganz klar die individuelle Konsequenz für den individuellen Patienten in den Vordergrund zu stellen: Wenn Lebensgefahr besteht oder schwere Folgen einer Erkrankung möglich sind, sollte man das sehr deutlich machen. Um ihre eigene Gesundheit sind Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, auch besorgt. Die Schwierigkeit ist, dass es sich um unsichtbare Krankheitserreger handelt, an deren Existenz Verschwörungstheoretiker zweifeln. Man sollte sich daher auf das konzentrieren, was sichtbar ist: Ich habe geimpft und ich habe den Erfolg gesehen, ich habe nicht geimpft und ich habe den Misserfolg gesehen. Erfolgversprechend ist eine Kommunikation, die die Leute damit erreicht, woran sie glauben.