Die umfassenden Pflichten des Arztes bei Betreuung einer Risikoschwangerschaft
Judith MeisterWenn ein Kind durch einen ärztlichen Fehler mit schwersten Schäden zur Welt kommt, sprechen deutsche Gerichte den Betroffenen regelmäßig hohe sechsstellige Summen zu. Ein aktuelles Urteil wirft nun ein Schlaglicht auf die Frage, wann ein vorwerfbares ärztliches Fehlverhalten beginnt.
Die Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt am Main verdeutlicht, welche Standards bei der Betreuung von (Hoch-)Risikoschwangerschaften anzulegen sind. Konkret ging es um den Fall einer Frau, die mit 37 zum ersten Mal schwanger war und eineiige Zwillinge erwartete. Die werdende Mutter wurde von ihrem Arzt über Wochen hinweg stationär betreut. Allerdings handelte es sich bei dem Krankenhaus um eine Geburtsklinik ohne Frühchen-Intensivstation.
Als sich zeigte, dass sich bei der Frau ein typisches Risiko der Schwangerschaft realisiert hatte und einer der Feten im Mutterleib verstorben war, wurde diese Auswahl den Beteiligten zum Verhängnis: Zwar gelang es den Ärzten, den zweiten Zwilling per Notkaiserschnitt lebend auf die Welt zu holen. Der Junge trug aber schwerste Hirnschäden davon.
Die Eltern verklagten für ihren Sohn sowohl den Arzt als auch das Krankenhaus auf Schadenersatz und Schmerzensgeld – mit Erfolg.
720.000 Euro für schwere Behinderung
Bereits in erster Instanz sprach das Landgericht dem Jungen ein Schmerzensgeld von 720 000 Euro zu. Dabei stützte sich die Kammer auf das Gutachten eines gynäkologischen Sachverständigen. Dieser hatte ausgeführt, dass das medizinische Gesamtkonzept der Klinik offensichtlich nicht auf die Bedürfnisse der konkreten Schwangerschaft ausgerichtet gewesen sei.
Als schwangere Hochrisikopatientin hätte die Frau ausschließlich in einer Klinik behandelt werden dürfen, die über eine neonatologische Intensivstation verfügt. Dies sei zwingend, da es bei einer Hochrisikoschwangerschaft mit eineiigen Zwillingen jederzeit zu einer Frühgeburt oder zu schweren Komplikationen bis hin zum Fruchttod eines Fetus kommen könne. Solche Entwicklungen würden eine sofortige Entbindung und eine sofortige Notfallbehandlung des oder der Neugeborenen erfordern.
Eine angemessene Behandlung solcher Neugeborenen könne aber nur durch neonatologische Fachärzte mit einer entsprechenden technischen Ausstattung gewährleistet werden.
Auch die zweite Instanz bejaht groben Behandlungsfehler
Die Klinik und der beklagte Arzt gingen gegen diese Entscheidung in Berufung, hatten aber auch vor dem OLG Frankfurt keinen Erfolg. Vielmehr kam der Senat zu dem Ergebnis, dass der bis heute andauernde äußerst schlechte Gesundheitszustand des Jungen durch grobe Behandlungsfehler in einem nicht für solche Fälle ausgestatten Krankenhaus verursacht worden war. Damit blieb es beim Schmerzensgeld in Höhe von 720.000 Euro (OLG Frankfurt/M., Az. 8 U 8/21).
Warum Ärzte das Urteil kennen sollten
Tragen ein Kind (oder die Mutter) nach einer Geburt schwere körperliche oder geistige Beeinträchtigungen davon, ist das nicht nur tragisch. Geburtsschäden lösen in der Regel auch sehr hohe Schadenersatz- bzw. Schmerzensgeldzahlungen aus. Klassische Versäumnisse unter der Geburt sind eine fehlerhafte CTG-Überwachung oder ein zu spätes Eingreifen bei Komplikationen. Das aktuelle Urteil belegt jedoch, das auch die Wahl einer unzureichend ausgestatteten Geburtsklinik als grober Behandlungsfehler zu werten ist und entsprechende Haftungsansprüche auslösen kann.