Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Klinik

In einer Zeit von Gender Equality und Diversität möchte man glauben, dass es die Einteilung in Frauen- und Männerberufe nicht mehr gibt. Doch die Realität sieht oftmals anders aus, wie z. B. in der Chirurgie: 80 Prozent der Medizinstudierenden sind Frauen. Aber nur 18 Prozent von ihnen sind später in chirurgischen Abteilungen tätig. Auch der Beruf des Operationstechnischen Assistenten wird umgangssprachlich als „OP-Schwester“ übersetzt und gilt damit als traditionelle Frauentätigkeit.

Das Team des Zentrums für Orthopädische Chirurgie am Krankenhaus Tabea in Hamburg-Blankenese sprengt dieses Klischee. Dr. Verena Hilgen (39) ist Hamburgs einzige Senior-Operateurin in der „Männerdomäne“ Endoprothetik. Hannes Bergfeld (40) arbeitet als Operationstechnischer Assistent (OTA). Wir haben sie zum Arbeitsalltag mit vermeintlich vertauschten Rollen befragt.

Kurze Vorstellungsrunde: Wer macht was, seit wann?

Dr. med. Verena Hilgen: Ich arbeite seit 14 Jahren und bin Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie. Ich habe im Verlauf eine Zusatzausbildung zur Antibiotikaexpertin absolviert und bin seit 7 Jahren am Krankenhaus Tabea im Zentrum für Orthopädische Chirurgie. Seit 2016 bin ich dort Oberärztin sowie Senior-Operateurin im Endoprothesen-Zentrum der Maximalversorgung und seit einem Jahr als leitende Oberärztin tätig. Darüber hinaus absolviere ich eine dreijährige Weiterbildung zur Zusatzbezeichnung „Spezielle orthopädische Chirurgie“, die ich dieses Jahr beenden werde.

Hannes Bergfeld: Vor meinem Zivildienst im Krankenhaus Tabea vor rund 21 Jahren hatte ich eigentlich nicht vor, etwas im medizinischen Bereich zu machen. Nach meinem Dienst wollte ich dann direkt Chirurg werden. Den Plan habe ich dann aber nach ein paar Jahren verworfen und mich für die Ausbildung zum OTA entschieden, um lieber zuarbeitende Funktionen auszuführen. Seit 2011 bin ich Leiter des OP am Krankenhaus Tabea. Seit sieben Jahren arbeite ich hauptsächlich mit Frau Dr. Hilgen zusammen. Als ich sie das erste Mal sah, dachte ich „endlich mal wieder eine Chirurgin“.

Wie kann man sich die Zusammenarbeit vorstellen? Wer hat welche Aufgaben vor, während und nach einer OP?

Dr. med. Verena Hilgen: Während die OTAs den OP-Saal vorbereiten, sind die Operateure bei den Narkoseärzten in der Narkoseeinleitung, wo wir den Patienten lagern, entweder in Rücken- oder Seitenlage. Die Vorbereitungen im OP-Saal sind sehr anspruchsvoll. Es gibt teilweise bis zu zehn Siebe mit speziellen Instrumenten für Hüft-, Knie-, Schulter- und Sprunggelenk-Endoprothetik. Es werden teils hochkomplexe mehrstündige Operationen durchgeführt, insbesondere in der Revisionschirurgie, wenn wir Endoprothesen wechseln. Wenn die OTAs mit der Vorbereitung fertig sind, dürfen wir den Patienten in den OP-Saal reinfahren. Ich operiere in der Regel mit einem Assistenzarzt zusammen oder auch mit einer Studierenden. Die OTAs sind an meiner Seite, unterstützen mich tatkräftig und reichen mir die sterilen Instrumente. Wir sind ein eingespieltes Team und müssen teilweise gar nichts sagen, weil die OTAs genau wissen, welcher Schritt bei der OP dran ist. Das geht Hand in Hand. Wenn die OP abgeschlossen ist, nähen wir die Wunde zu und der OTA bereitet schon das Röntgengerät vor, um noch im OP-Saal ein Röntgenbild zu machen. Darauf sehen wir das Ergebnis der OP. Im Anschluss begleite ich die Patienten in den Aufwachraum.

Hannes Bergfeld: Für mich geht es danach auch schon weiter mit der nächsten Operation, sofern es an dem Tag noch eine gibt. Es ist wie ein „Ringeltanz“ kann man sagen. Ist die eine OP fertig, wird die nächste vorbereitet.

Frau Dr. Hilgen, Sie sind eine der wenigen Senior-Operateurinnen in Deutschland – in Hamburg sogar die Einzige. Mit welchen Vorurteilen haben Sie immer noch zu kämpfen?

Dr. med. Verena Hilgen: Ja, da haben Sie vollkommen Recht, das entspricht den Tatsachen. Man muss sagen, dass heutzutage in den Köpfen der Menschen der Chirurg grundsätzlich ein Mann ist. Da hat noch kein flächendeckendes Umdenken stattgefunden. Und das gilt auch für viele männliche Ärzte. Man merkt das auch teilweise in Zeitungsinterviews, die Chirurgen geben und sich dahingehend äußern, dass Frauen in der Chirurgie – insbesondere in der Endoprothetik – nicht in der Lage seien, auf dem gleichen Niveau wie Männer zu arbeiten.
Männliche Kollegen sagen Frauen häufig nach, ihnen fehle die körperliche Kraft für große Operationen, z.B. bei sehr schweren Patienten und Patientinnen. Dass Frauen angeblich nicht genug Kraft haben oder Männern gegenüber in der Chirurgie unterlegen sind, ist ein klassisches Vorurteil, das ich aus meiner langjährigen Erfahrung nicht bestätigen kann. Ich persönlich habe da nie Probleme gehabt, ganz im Gegenteil. Dass die Chirurgie eine Männerdomäne ist, liegt vielleicht genau an solchen Klischees. In der Tabea Klinik spielt dies jedoch keine Rolle, da meine Chefärzte mit mir auf Augenhöhe arbeiten und mich stets gefördert und gefordert haben.

Herr Bergfeld, wie denken Sie als Mann über diese noch seltene Rollenverteilung?

Hannes Bergfeld: Das macht für mich keinen Unterschied, es kommt immer auf den Charakter-Typ an, würde ich sagen. Entweder mag ich jemanden und der- oder diejenige kann was oder eben nicht. Das mache ich aber nicht vom Geschlecht abhängig.

Macht es für Sie einen Unterschied, ob Sie gemeinsam mit einem Mann oder einer Frau zusammenarbeiten? Was kann eine Frau in Ihren Augen vielleicht sogar besser?

Hannes Bergfeld: Ich würde nicht zwischen Mann und Frau unterscheiden, sondern zwischen kompetent und nicht kompetent. Es ist grundsätzlich schade, dass es nicht mehr Chirurginnen in leitenden Positionen gibt. Frau Dr. Hilgen ist in unserem Team und in den Reihen der leitenden Chirurgen voll integriert. Es macht für uns keinen Unterschied, wir empfinden es als ganz normal, dass sie als leitende Oberärztin operativ tätig ist. Wir schätzen ihre Fachkompetenz und sie steht den männlichen Kollegen in nichts nach. Ich sehe bei Frau Dr. Hilgen die große Erfahrung aufgrund der Vielzahl an Operationen, die sie bereits durchgeführt hat. Sie hat ein sicheres Auftreten im OP und behält in schwierigen Situationen die Ruhe.

Was schätzen Sie aneinander besonders? Gibt es eine TOP 3 an Eigenschaften, die sie sich gegenseitig zuordnen würden?

Dr. med. Verena Hilgen:

1. Routiniertes Team,

2. Professionalität: aufgrund der langjährigen Erfahrung, insbesondere auch bei schwierigen, längeren Operationen.

3. Freundliches Wort und gegenseitige Unterstützung: es wird nie laut oder pampig.

Hannes Bergfeld:

1. Sehr kompetent,

2. Gradlinig,

3. Freundlich. Außerdem ist Dr. Hilgen sehr umgänglich am Tisch und wirft keine Messer *lacht*.

Herr Bergfeld, gab es zur Ihrer Berufswahl Reaktionen aus dem Umfeld oder wird das dort bereits als „normal“ empfunden? Denn der Beruf des OTAs wird ja meistens von Frauen ausgeübt, oder?

Hannes Bergfeld: Ja, ich werde auch gern mal „OP-Schwester“ genannt, aber damit kann ich umgehen. Sag ich sogar selbst manchmal über mich, wenn Leute nicht wissen, was ein OTA macht. Mit „OP Schwester“ kann direkt jeder etwas anfangen.

Sehen Sie vermehrt männliche Kollegen oder ist es immer noch so, dass der Beruf des OTA überwiegend von Frauen aufgeführt wird?

Hannes Bergfeld: Bei unseren Auszubildenen ist ca. ein Drittel männlich. Allerdings warten die meisten davon auf ihren Platz für ein Medizinstudium und machen die Ausbildung nur als Überbrückung. Eigentlich schade, dass die gut ausgebildeten OTAs somit gar nicht auf dem Markt landen. Daran hat sich in den letzten 20 Jahren meiner Ansicht nach auch nichts geändert.

Frau Dr. Hilgen, was möchten Sie weiblichen Nachwuchstalenten aus Ihrer eigenen Erfahrung mit auf den Weg geben?

Dr. med. Verena Hilgen: Ich kann nur jede Medizinstudentin und jede Assistenzärztin ermuntern, auch den Weg in die Chirurgie zu suchen, welche absolut keine Männerdomäne mehr sein sollte. Mit dieser antiquierten Einstellung muss langsam aufgeräumt werden. 80 Prozent aller Medizinstudierenden sind Frauen, darum muss sich die Chirurgie in Zukunft verändern. Es gibt so viele Fachbereiche in der Chirurgie, die man kennenlernen und in denen man tätig sein kann. Hinzu kommt, dass sich der ganze Einstieg ins Berufsleben verändert hat und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Work-Life-Balance betrifft Männer und Frauen gleichermaßen und führt dazu, dass man leitende Positionen auch an Teilzeit-Beschäftigte weitergeben muss. Das heißt, auch Frauen haben in der Chirurgie ihren Platz. Ich kann jede junge Frau dazu ermutigen, nach dem Abitur ein Praktikum im OP zu machen oder auch während des Studiums mal bewusst in eine chirurgische Abteilung zu gehen. Operieren ist in meinen Augen nicht nur körperliche Anstrengung – insbesondere in der Endoprothetik – sondern auch eine mentale Aufgabe. Es braucht zudem Disziplin, Geschick und Entschlusskraft. Und das kann jeder und jede erlernen. Ich hoffe, dass ich mit Interviews wie diesem und meiner aktiven Mitgestaltung beim Verein „Die Chirurginnen“ einen kleinen Beitrag dazu leisten kann, dass mehr Frauen in die Chirurgie gehen. Ich persönlich liebe den OP und wäre am liebsten jeden Tag dort.

Hintergrundinfo: Der Verein “Die Chirurginnen” wurde im Januar 2021 gegründet und ist für alle chirurgisch tätigen Frauen sowie interessierte Studentinnen gedacht. Man möchte Vorbilder aufzeigen, an denen sich die jungen Talente orientieren können und  aktiv die Vernetzung von Frauen und damit eine gegenseitige Unterstützung auf dem Weg nach oben fördern: https://chirurginnen.com