Die Krebserkrankung überleben und verarbeiten
Marcus SefrinDie psychischen Langzeitfolgen von Krebserkrankungen sind eine Kehrseite der Erfolgsgeschichte der Onkologie. Sie müssen identifiziert und ihre Ausprägung erfasst werden, um Hilfebedarf eruieren zu können.
Seit 2007 gibt es die internationale Fachzeitschrift „Journal of Cancer Survivorship“, nicht ohne Grund: Durch die verbesserte Früherkennung sowie die Fortschritte in den Behandlungsmöglichkeiten haben sich die Überlebenszeiten bei den meisten Tumorarten erhöht. In der Folge hat auch die Zahl der Langzeitüberlebenden zugenommen: Etwa zwei Drittel der Patienten in Deutschland mit oder nach einer Krebserkrankung fallen in diese Kategorie mit fünf oder mehr Jahren nach Krebsdiagnose oder Ende der Behandlung.
Körperliche und seelische Belastungen bei Krebsüberlebenden
Trotz der Erfolge der Tumortherapie können Langzeitüberlebende von verschiedenen Problemen in der Folge der Erkrankung oder Therapie betroffen sein – sowohl körperlichen als auch seelischen. Als psychische Langzeitfolgen sind vor allem Angst und Depression, Einschränkungen der Lebensqualität, neuropsychologische Defizite sowie Fatigue von Bedeutung.
Angst und Depression: Prävalenz und Risikofaktoren
Bei Langzeitüberlebenden korrelliert Angst mit Depression, wobei die Angstwerte häufig höher liegen als die für Depression. Die Angaben zur Prävalenz für beide Bereiche schwanken zwischen 7 und mehr als 20 Prozent. Bei Langzeitüberlebenden spielt die Rezidiv- oder Progredienzangst eine besondere Rolle. In einer Analyse populationsbasierender Kohorten von Langzeitüberlebenden einer Brustkrebserkrankung in Deutschland berichtete zwar mit 82 Prozent die klare Mehrzahl der 2.671 befragten Frauen eine geringe Rezidivangst, doch 11 Prozent litten unter moderater und 6 Prozent unter hoher Rezidivangst. Psychosoziale und soziodemografische Faktoren spielten dabei eine weitaus größere Rolle als klinische: Als Risikofaktoren fand die Analyse ein jüngeres Lebensalter mit einer Odds Ratio (OR) von 3,00 für Frauen unter 55 Jahren sowie die subjektive Einschätzung, sich weiterhin als Tumorpatientin zu betrachten (OR 3,36). Höhere Werte der Rezidivangst waren mit höherer Depressivität sowie geringerer Lebensqualität assoziiert.
Depressive Störungen und posttraumatisches Wachstum
In einer Querschnittsstudie wurden Angst und Depression in zwei Kohorten mit insgesamt gut 1.000 Patienten mit verschiedenen Krebsdiagnosen fünf oder zehn Jahre nach Diagnose analysiert. Für die Depression fand sich bei den Krebsüberlebenden eine Prävalenz von 12,5 Prozent für moderate und 4,5 Prozent für schwere Depressionen; besonders hohe Werte hatten Brustkrebsüberlebende sowie jüngere Patienten zwischen 23 und 60 Jahren. In einer anderen Arbeit fiel bei Brustkrebspatientinnen die Prävalenz einer depressiven Störung von 33 Prozent zum Diagnosezeitpunkt auf 15 Prozent im fünften Jahr nach Diagnose und entsprach damit dem Wert in der Allgemeinbevölkerung.
In einer bevölkerungsbasierenden Studie mit 6.952 Langzeitüberlebenden nach Brust-, Prostata- oder kolorektalem Krebs berichteten 66,0 Prozent der Befragten aber auch eine moderate bis hohe positive Veränderung in ihrem Leben, 20,5 Prozent wiesen als „posttraumatisches Wachstum“ bezeichnete Anpassungs- und Veränderungsprozesse auf. Beide Aspekte waren von Diagnose und Geschlecht abhängig und häufiger bei Brustkrebs und Frauen.
Fatigue als Langzeitfolge der Tumortherapie
Von der tumorassoziierten Erschöpfung während oder unmittelbar nach Ende der Tumortherapie sind fast alle Patienten betroffen, als Langzeitfolge tritt sie deutlich seltener auf. In einer kleineren deutschen Studie war allerdings fünf Jahre nach Beendigung einer Mammakarzinomtherapie im Durchschnitt immer noch etwa die Hälfte der Patientinnen von Fatigue betroffen.
Neurokognitive Störungen bei Krebsüberlebenden
Wissenschaftliche Studien zur Erfassung neurokognitiver Störungen bei Krebserkrankten wurden überwiegend mit Brustkrebspatientinnen durchgeführt. Die Einschränkungen beziehen sich darin vorrangig auf die Gedächtnisleistung, die kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit, die Aufmerksamkeit und auf exekutive Funktionen.
Weis J. Bundesgesundheitsblatt 2022;65:431–438