Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Praxisführung

Der Tod eines langjährigen Patienten, eine Fehldiagnose, ein aggressiver Patient – belastende Ereignisse gehören zum medizinischen Alltag. Weniger sichtbar ist, dass auch Behandelnde selbst in solchen Situationen zu sogenannten „Second victims“ werden können. Diesen Begriff prägte der US-Internist Prof. Albert Wu für Fachkräfte im Gesundheitswesen, die nach einer Patientenschädigung leiden – ob selbst verursacht oder nur bezeugt. Ihm war aufgefallen, dass eine ärztliche Kollegin nach einem schweren Fehler selbst litt und fast so beeinträchtigt war wie der geschädigte Patient. „Das Phänomen ist so alt wie die Medizin – und weiter verbreitet, als viele denken“, sagt Prof. Reinhard Strametz, der an der Hochschule RheinMain Patientensicherheit lehrt und das Second-Victim-Phänomen systematisch untersucht. 

„Wir gehen von 60 bis 80 Prozent aus, die so etwas schon einmal erlebt haben“, so Strametz. Seine Studien zeigen: Second Victims finden sich in allen Fachrichtungen, in der Klinik wie in der Praxis. Im Gespräch mit ARZT  & WIRTSCHAFT erklärt Strametz, woran Betroffene Warnsignale erkennen, welche Faktoren schützen – und warum eine Kultur der Nachsorge im Gesundheitswesen längst überfällig ist.

Herr Professor Strametz, was genau versteht man unter dem Second-Victim-Phänomen?

Gemeint sind Gesundheitsfachpersonen, die nach einem belastenden Ereignis selbst leiden. Das kann aufgrund eines Fehlers sein, einer Patientenschädigung, eines unerwarteten Todes, eines Beinahe-Schadens oder Gewalt in der Praxis.

Welche Folgen sehen Sie im Alltag?

Typisch sind Schlafstörungen, intrusive Erinnerungen, Schuldgefühle. Vor allem aber der Verlust des Vertrauens in die eigene Kompetenz. Wer mit dieser inneren Haltung behandelt, erhöht sein Fehler­risiko. Es kann auch in eine defensive Medizin münden, etwa durch übermäßige Diagnostik und Überbehandlung.

Welche typischen Auslöser für Belastungen gibt es in der Arztpraxis?

Medikations- oder Diagnostikfehler, bei Kinderärzten Suizide Jugendlicher, schwere Unfälle mit Kindern, aggressive Patienten. Oft reichen schon Beinahe-Schäden, um Betroffene massiv zu belasten. Knapp an einer Ka­ta­strophe vorbeizuschlittern, brennt sich ein.

Früher hieß es oft ganz schlicht: „Nimm das nicht mit nach Hause.“ Gilt das noch?

Nein. Dieser Satz ist ebenso wenig hilfreich, wie einem depressiven Menschen zu sagen: „Denk doch mal positiv, die Sonne scheint.“ Natürlich legen wir uns ein dickes Fell zu – das ist aber kein undurchdringbarer Panzer. Und es ist sogar wichtig, dass uns manche Dinge nahegehen. Belastungen zu verdrängen, ist kontraproduktiv. Entscheidend ist, einen konstruktiven Umgang damit zu finden.

Woran erkennen Ärztinnen und Ärzte, dass sie Unterstützung brauchen?

Wenn intrusive Erinnerungen auftreten, Schlaf fehlt, Grübelschleifen nicht abreißen oder starke Schuldgefühle dominieren. Spätestens dann sollte das kollegiale Gespräch gesucht werden.

Warum gerade das kollegiale Gespräch?

Peer-Support ist hocheffektiv, oft reichen zwei, drei Gespräche. Balintgruppen sind dafür ein gutes Forum. Wo das nicht reicht, braucht es eine Krisenintervention. Ein kleiner Teil – in etwa drei bis fünf Prozent der Fälle – benötigt Therapie, die bei frühem Beginn eine gute Prognose hat.

Welche Rolle spielt das Umfeld?

Eine entscheidende. Kollegiale Unterstützung schützt. Sanktionen, Schuldzuweisungen oder soziale Ächtung infolge des Geschehenen erhöhen dagegen das Risiko für Traumafolgestörungen deutlich.

Gibt es auch persönliche Risiko­faktoren?

Ein hoher Neurotizismuswert – also eine Grundunsicherheit – erhöht das Risiko. Noch wichtiger ist jedoch das Umfeld: Reagiert es mit Unterstützung oder mit Sanktionen? Bei zusätzlicher sozialer Ächtung ist die Gefahr einer dysfunktionalen Verarbeitung sehr hoch.

Wie verlaufen Second-Victim-Erfahrungen typischerweise?

Es gibt drei mögliche Pfade, wie Dr. Susann Scott beschreibt. Wachstum – man verarbeitet das Geschehene, lernt da­raus und wird stabiler. Überleben – man macht irgendwie weiter, vielleicht auch mithilfe von Alkohol oder Medikamentenmissbrauch. Oder Drop-out – ein Fachwechsel, die Abkehr vom Patientenkontakt oder Praxisaufgabe.

Kann das existenzielle Krisen auslösen?

Ja, besonders wenn das Second Victim sozial sanktioniert wird. Dann gibt es leider zahlreiche Fälle, in denen sich ärztliche Kolleginnen und Kollegen im Zuge ihrer Scham, Isolation und Schuldgefühle suizidiert haben.

Und wie geht es besser?

Mit Unterstützung aus dem unmittelbaren Umfeld. Dann gelingt die Verarbeitung oft gut und Betroffene können weiter ihren Dienst verrichten, mit Freude an der Arbeit.

Was kann dabei psychisch besonders entlasten?

Viele denken: „Ich bin der Einzige, dem so etwas passiert.“ In Wahrheit berichten 60 bis 80 Prozent von ähnlichen Erfahrungen. Dieses Wissen entlastet enorm.

Was können Praxisinhaberinnen und -inhaber konkret tun?

Belastende Ereignisse offen benennen, zeitnah nachbesprechen, feste Peer-Ansprechpersonen etablieren, Balintgruppen und Qualitätszirkel einbinden. Niedrigschwellig ist die Helpline von PSU-Akut, anonym und fachlich kompetent. Für das Praxisteam ist es wichtig, Selbstfürsorge vorzuleben. Mitarbeitende sollten wissen, dass Pausen und Psychohygiene Teil der Professionalität sind.

Viele Niedergelassene arbeiten ohne direkte Kollegen auf Augenhöhe. Wie sinkt die Hemmschwelle, sich an andere zu wenden?

Über formalisierte Angebote, verlässliche Vertraulichkeit und einfache Zugänge. Regionale Vernetzung über die Kassenärztlichen Vereinigungen, Ärztekammern, Qualitätszirkel hilft. Wichtig ist, dass psychische Unterstützung als normaler Teil professioneller Arbeit gilt – nicht als Schwäche.

Und was ist dabei der Nutzen für die Patien­tensicherheit?

Psychisch stabile Behandelnde machen weniger Fehler und behandeln besser. Das Genfer Ärztegelöbnis be­inhaltet seit 2017, auch auf die eigene Gesundheit zu achten – um eine Behandlung auf höchstem Niveau gewährleisten zu können. Dazu gehört ganz klar auch die psychische Gesundheit.

Welche Strukturen sind bereits vorhanden?

Patientensicherheits- und Well-being-Angebote, das psychotherapeutische Verfahren der Unfallversicherung bei Akut­ereignissen, telefonische Helplines wie PSU sowie die klinische Krisenintervention. Entscheidend ist die Nähe: Kollegiale Hilfe ist niedrigschwellig und stabilisiert viele rasch.

Nehmen Sie bereits einen Kulturwandel wahr?

Ja, jüngere Ärztinnen und Ärzte fordern psychische Unterstützung stärker ein. Das ist gut, denn so können wir mehr Hochqualifizierte langfristig im Job halten.

Was wünschen Sie sich?

Dass wir offen sagen: Selbstfürsorge ist Professionalität. Nachbesprechungen sind Standard. Hilfe zu suchen, ist klug. So bleiben wir leistungsfähig – in Zeiten, in denen das System jeden Kopf braucht.

Kollegiale Unterstützung per Telefon

Die Helpline des Vereins PSU-Akut (Psychosoziale Unterstützung im Gesundheitswesen) bietet an sieben Tagen die Woche kollegiale Unterstützung und fachlich kompetente Gesprächsangebote, telefonisch oder per Mail — kostenlos, anonym und vertraulich.

Tel. 0800 0 911 912 (täglich von 9 bis 21 Uhr)

beratung@psu-helpline.de

www.psu-akut.de

Prof. Dr. med. habil. Reinhard Strametz

Prof. Dr. med. habil. Reinhard Strametz

Prof. Dr. med. habil. Reinhard Strametz ist Anästhesist und Ökonom. Er lehrt Patientensicherheit und Evidenzbasierte Medizin an der Hochschule RheinMain und leitet Studien zum Second-Victim-Phänomen im deutschsprachigen Raum. Schwerpunkte sind: kollegiale Unterstützungssysteme, Prävention psychischer Belastungen und die ökonomischen Effekte von Peer-Programmen. Foto: Fotostudio Hoffman, Frankfurt.

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