Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Praxis

Freunde treffen, einkaufen oder arbeiten gehen – all das ist für viele Patientinnen und Patienten, die an ME/CFS erkrankt sind, nur eingeschränkt oder gar nicht möglich. Menschen mit schweren oder schwersten Verläufen sind (überwiegend) bettlägerig und zum Teil pflegebedürftig, selbst Zähneputzen oder Essen strengt sie unendlich an. Doch auch Patienten mit moderaten Verläufen sind in ihrer Lebensführung stark eingeschränkt. Das Haus verlassen, Licht, Lärm, andere Menschen, Aufräumen, Essen kochen, Freunde treffen – kaum machbar.

ME/CFS steht für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Es wird durch Infektionen, etwa mit SARS-CoV-2 oder EBV, ausgelöst. In Deutschland sind nach Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS e. V. rund 650.000 Menschen an ME/CFS erkrankt. Statistisch gesehen hat damit jeder Hausarzt rund zwölf ME/CFS-Patienten in seiner Praxis. Drei Viertel dieser Patienten sind moderat betroffen. Sie schaffen es unter großer Anstrengung noch, Arzttermine wahrzunehmen, etwa bei akuten anderen Erkrankungen. Dabei besteht immer die Gefahr, dass sich ihr Zustand durch eine Überlastung (nachhaltig) verschlechtert. Doch vielen Hausärztinnen und Hausärzte fehlen noch Informationen im Umgang mit diesen Patienten.

Frau Dr. Brock, Sie sind Internistin und waren selbst an ME/CFS erkrankt. Welche Erfahrungen haben Sie als Patientin in den Sprechstunden Ihrer niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen gemacht?

Ich habe schnell gemerkt, dass ich schwerstkrank war, habe versucht, kollegiale Hilfen zu erhalten, und war damals fassungslos, dass mit mir kein Arzt etwas anfangen konnte. Es hieß immer relativ schnell, da können wir jetzt nichts machen, da gibt es keine Daten. Ich habe auch Ablehnung und Demütigung erfahren. Das Erschreckendste war für mich als Patientin aber, dass ich auch von Kollegen, die scheinbar bemüht waren, regelmäßig zu hören bekam, sie seien „nicht zuständig“. Es gibt bei dieser Erkrankung nun mal nicht die zuständige Stelle. Wenn man einen Patienten nirgendwo hinschicken kann, dann sollten wir Ärzte zuständig sein und versuchen, den Patienten bestmöglich zu betreuen. Ich habe mich dann, auch mithilfe eines universitären Kollegen und meiner Berufsgenossenschaft, Schritt für Schritt ins Leben zurückgekämpft. Das war für mich der Grund, warum ich mich entschieden habe, für diese Patientengruppe da sein zu wollen.

Dr. Anna Brock

Dr. Anna Brock ist Fachärztin für Innere Medizin und betreut am Charité Fatigue Centrum in Berlin im Team von Frau Prof. Carmen Scheibenbogen im Arbeitsbereich Immundefekte und postinfektiöse Erkrankungen hausgebundene ME/CFS-Patienten sowie in der Praxis Biallomed in Düsseldorf ambulante Patienten. Zuvor war sie hausärztlich tätig. In Vorbereitung ist ein selbstständiges Angebot für schwer betroffene Patienten im Großraum Stuttgart.

Ihre Erfahrungen liegen rund fünf Jahre zurück. Hat sich in den Arztpraxen inzwischen etwas im Umgang mit ME/CFS-Patienten geändert? 

Ich glaube, in der Breite hat sich wenig verändert. Es gibt aber inzwischen weniger Kollegen, die sich für „nicht zuständig“ erklären. Patienten berichten mir, dass viele Hausärzte sehr bemüht sind, aber nicht wissen, wie sie helfen können. Inzwischen habe ich viele hausärztliche Kollegen, mit denen ich sehr gut und gerne zusammenarbeite, um diese Patienten gemeinsam zu unterstützen.

Wie schätzen Sie die ambulante Versorgungslage von an ME/CFS Erkrankten in Deutschland ein?

Die Versorgung, so wie sie zurzeit läuft, ist schlicht eine Kata­strophe, wir haben eigentlich keine Versorgung. Am härtesten trifft es die hausgebundenen Patienten, um die ich mich vor allem an der Charité kümmere. Sie sind in aller Regel gar nicht versorgt. Es gibt einzelne Ausnahmen, die repräsentieren aber nicht die allgemeine Versorgungssituation.

Wie kommt es, dass viele niedergelassene Kolleginnen und Kollegen vom Krankheitsbild ME/CFS noch kaum etwas gehört haben?

Es ging mir auch nicht anders, bevor ich erkrankte. Ich würde behaupten, dass ich immer eine aufmerksame Studentin war. Aber ME/CFS ist mir weder im Studium noch in meiner breiten internistischen Ausbildung jemals begegnet. Ich erlebe, dass es den allermeisten Kollegen auch so geht, sie kennen das Krankheitsbild nicht. Durch Post-COVID hat sich das in der jüngsten Vergangenheit etwas geändert. Vielen Kollegen sagt ME/CFS inzwischen etwas, aber gleichzeitig ist es behaftet mit der Annahme, dass man da nichts machen kann. Es ist unter den Ärzten noch viel zu wenig bekannt, dass man für die Patienten doch schon einiges tun kann. 

Was genau steckt medizinisch hinter ME/CFS? 

ME/CFS gilt als neuroimmunologische Erkrankung. In den meisten Fällen steht am Anfang eine Infektion, klassischerweise mit dem Epstein-Barr-Virus, jetzt SARS-CoV-2, aber theoretisch auch mit anderen Erregern. Auch andere schwerere Ereignisse wie eine Sepsis können dazu führen, dass es am Ende zu einer chronischen Immunstimulation, Mikrozirkulationsstörung, Gerinnungsaktivierung, Neuro-Inflammation kommt, die dann über mitochondriale Störungen zu diesem schweren Krankheitszustand führen kann. Gleichzeitig werden autoimmune Mechanismen diskutiert und erforscht, die für eine Subgruppe eine wichtige Rolle spielen. Die Krankheit wurde von der WHO bereits 1969 in der Neurologie verankert mit dem ICD-10-Code G93.3.

© Medtrix Group

Wie geht es den Betroffenen, was sind ihre Symptome?

Führend für die Patienten sind Symptome wie schwere Erschöpfung, die wirklich nichts mit Müdigkeit zu tun hat. Es handelt sich hierbei um eine körperliche, schwerste Erschöpfung, die dazu führen kann, dass es den Patienten nicht mehr möglich ist, am Tisch zu sitzen oder eine Flasche in die Hand zu nehmen. Es kommt zu Muskelschwäche und -schmerzen, Kreislaufregulationsstörungen (POTS), zu kognitiven Störungen, zu Durchblutungsstörungen. Typisch sind neuropathische Schmerzen am ganzen Körper sowie eine hohe Reizempfindlichkeit, etwa gegenüber Licht, Lärm oder Berührungen.

Was bedeutet ein sogenannter Crash?

Ein Crash ist das, was wir bei anderen Erkrankungen als Schub bezeichnen, nämlich eine Verschlechterung. Bei ME/CFS kommt dieser Crash häufig nach einer Belastung, die über die individuelle Energiereserve hinausgeht. Mit einem Zeitversatz, der 12 bis 48 Stunden dauern kann, kommt es zu einer deutlichen Zustandsverschlechterung und Zunahme aller Symptome. Das macht es schwierig, die Krankheit in einer Arztpraxis einzuschätzen. Denn die Patienten können kurz ihre Kräfte mobilisieren und sich beim Termin zusammenreißen. Was die Tage danach passiert, entzieht sich den meisten Kollegen aber, nämlich dass die Patienten dann zum Teil nur in einem abgedunkelten Raum liegen und sich kaum mehr zur Toilette schleppen können.

Ein Arzttermin ist für viele dieser Patienten extrem anstrengend. Was können niedergelassene Ärztinnen und Ärzte tun, um den Termin patientengerecht zu gestalten?

Wir haben bestimmte Bedingungen in der Praxis, die wir schwer ändern können, Wartezeiten gehören meist dazu. Wir können uns aber fragen: Ist es möglich, in einer Praxis einen kleinen Raum zu schaffen, der abgedunkelt werden kann und in dem die Patienten sich hinlegen könnten, um zu warten? Damit müssten sie nicht im vollen Wartezimmer sitzen, wo zu viele Reizimpulse auf sie einströmen. Die Wartezeit sollte natürlich so kurz wie möglich gehalten werden. Das wäre eine Möglichkeit, die für viele Patienten extrem hilfreich wäre.

Woran hapert es noch?

Es wäre wichtig, den Patienten die von ihnen geschilderten Beschwerden zu glauben. Einer der größten Fallstricke ist, dass wir sie ihnen nicht ansehen. Wenn jemand mit einem amputierten Bein kommt, ist offensichtlich, dass er nicht gut gehen kann. ME/CFS-Patienten waren klassischerweise vor ihrer Erkrankung oft fitte, junge Menschen, das macht es schwierig. Es wäre wichtig, ihnen auch zu glauben, dass sich ihr Zustand nach Überanstrengung verschlechtert. Es ist nicht hilfreich, ihnen zu sagen, sie sollten sich mal zusammenreißen. Zusammenreißen tun sich diese Patienten in aller Regel schon. Sie können tatsächlich nicht. 

Was empfehlen Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen noch im Umgang mit ME/CFS-Patienten?

Es wäre wünschenswert, das Krankheitsbild und seine Pathomechanismen zu kennen, denn nur dann kann man die Beschwerden einordnen und ernst nehmen. Wer das Krankheitsbild kennt, für den ist es leichter, die Patienten zu erkennen, und der wird sich auch nicht mehr abwertend äußern können.

Einordnung des Schweregrads von ME/CFS nach FUNCAP55

Gängige Einteilungen von ME/CFS erfolgen nach dem Bell-Score oder — neuer und differenzierter — nach FUNCAP55. Die Einordnung nach FUNCAP55 erfolgt folgendermaßen:

  • < mild: weniger als 50-prozentige Verringerung des Aktivitätsniveaus im Vergleich zum Zustand vor der Erkrankung

  • mild: mindestens 50-prozentige Verringerung des Aktivitätsniveaus im Vergleich zum Zustand vor der Erkrankung

  • moderat: überwiegend an das Haus gebunden

  • schwer: überwiegend bettlägerig

  • schwerst: vollständig bettlägerig und pflegebedürftig

Quelle:

Assessing Functional Capacity in Myalgic Encephalopathy/Chronic Fatigue Syndrome: A Patient-Informed Questionnaire, Sommerfelt, Schei, Seton, Carding, Journal of Clinical Medicine 2024, 13(12), 3486

Was bedeutet es für Patienten, sowohl mental als auch für ihre medizinische Versorgung, wenn sie in Arztpraxen abwertende Erfahrungen machen oder nicht ernst genommen werden?

Das hat gravierende Folgen. Ich sehe in der Praxis Patienten, die eine Odyssee hinter sich haben. Sie sind so gedemütigt, dass es ein Riesenschritt für sie ist, überhaupt wieder ein Vertrauensverhältnis zu einem Arzt aufzubauen. Sie haben zum Teil jeglichen Glauben an eine Versorgung und an unser System verloren. Das geht in tragischen Fällen sogar so weit, dass sie sich bei anderen akuten Erkrankungen wie einer Appendizitis nicht mehr getrauen, einen Arzt aufzusuchen, weil sie nicht mehr davon ausgehen, Hilfe zu erhalten. Dann kann es akut lebensbedrohlich werden.

Sollten Hausärztinnen und Hausärzte bei schwer an ME/CFS erkrankten Patienten Hausbesuche machen? Und ab welchem Stadium sind diese angezeigt?

Patienten mit einem Bell-Score kleiner 20 sind in der Regel nicht mehr in der Lage, in die Hausarztpraxis zu kommen, und müssten per Hausbesuch betreut werden. Viele Praxen machen jedoch keine Hausbesuche mehr, obwohl das eigentlich nicht zulässig ist. Wir alle wissen, dass die Hausarztpraxen sowohl personell als auch zeitlich extrem auf Kante genäht sind. Wie sollen die Kolleginnen und Kollegen da noch zeitintensive und schlecht honorierte Hausbesuche für ME/CFS-Patienten leisten? Das ist eigentlich nicht möglich, es sei denn, die Kollegen machen es aus eigener Initiative und aus Leidenschaft in ihrer Freizeit. Wir haben alle nur begrenzte Ressourcen und es gibt viele Kolleginnen und Kollegen, die sich wirklich aufarbeiten. Jeder Kollege muss letztlich selbst entscheiden, was er für ME/CFS-Patienten in diesem System zu leisten imstande ist. ME/CFS zeigt die Probleme unseres Gesundheitssystems wie unter einem Brennglas.

Was müsste sich Ihrer Meinung nach in der Versorgung von ME/CFS-Patienten ändern?

Es gibt zu wenig klare Diagnostik und Untersuchungen, die sich abrechnungstechnisch auch abbilden lassen. Es bräuchte vor allem sprechende Medizin, die zu schlecht vergütet wird. Die neuen Abrechnungsziffern, die es jetzt gibt, werden dem Krankheitsbild und der Komplexität der Versorgung leider weiterhin nicht gerecht. Was es außerdem bräuchte, wäre ein verbreitetes Wissen um das Krankheitsbild unter allen Kollegen. Auf hausärztlicher Ebene wäre es wünschenswert, wenn mit wirklich einfach umsetzbaren Screeningmethoden die Patienten, die sich nach einem Infekt nicht erholen, herausgefischt werden könnten. Daneben bräuchte es neben der üblichen fachärztlichen Ausschlussdiagnostik spezielle Zentren für postinfektiöse Erkrankungen, die eine hohe Expertise im Umgang mit den Patienten haben und an die die Hausärzte weiterüberweisen können. Dort könnten neben einer tieferen Diagnostik Behandlungsempfehlungen ausgesprochen werden, die dann hausärztlich mit umgesetzt werden können – aber mit regelmäßigen Ankerterminen und einer Anbindung der Patienten in diesen Zentren.

Hier erhalten Sie informationen zu ME/CFS

Auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS e. V. finden Sie den aktuellen Praxisleitfaden zu ME/CFS mit wertvollen Hinweisen etwa zum diagnostischen Vorgehen, Codieren und Abrechnen.

Das Charité Fatigue Centrum hat eine Website speziell für Ärztinnen und Ärzte eingerichtet. Sie enthält wichtige Informationen zu der Erkrankung, Literatur, mit deren Hilfe Sie sich weiterbilden können, sowie wichtige Veröffentlichungen der Charité selbst. Unter anderem finden Sie hier:

Regionale Anlaufstellen für Kinder mit ME/CFS finden Sie unter: https://pednet-lc.de. Auch für Erwachsene werden regionale Versorgungsnetzwerke aufgebaut, etwa PAIS CARE Berlin sowie weitere Modelprojekte.

Eine letzte Frage: Wie geht es den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen selbst, die ME/CFS-Patienten betreuen?

Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir als Hausärzte sind zuständig für unsere Patienten, solange wir das ärztlich verantworten können. Wenn wir es nicht mehr verantworten können, schicken wir zum Beispiel einen Patienten mit akuten kardialen Beschwerden mit dem Notarzt in die Klinik. In der Klinik ist nie ein Kollege allein, man hat immer ein Team, man trägt dieses Schicksal gemeinsam, selbst wenn es ans Sterben geht. Bei ME/CFS-Patienten ist man im niedergelassenen Bereich alleine. Es gibt keine Klinik, in die man die Patienten einweisen könnte, es gibt kein Back-up und noch nicht mal Kollegen im Team. Das heißt, im Zweifelsfall müssen Sie die Therapie und Begleitung des Patienten verantworten – bis zum Tod. Ich versuche für mich, das zu akzeptieren. Natürlich gibt es einen guten kollegialen Austausch unter den Ärzten, die ME/CFS-Patienten behandeln, wir stützen uns gegenseitig. Aber diese Erkrankung hat eine solche Dimension – am Ende stehen Sie damit alleine da.

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