16.600 Fälle von vermuteten Behandlungs- und Pflegefehlern bei AOK-Versicherten im vergangenen Jahr
dpa infocomDie AOK-Gemeinschaft fordert ein Update des Patientenrechtegesetzes: Bei vermuteten Behandlungs- und Pflegefehlern sowie Medizinprodukte- und Arzneimittelschäden soll künftig eine überwiegende Wahrscheinlichkeit als Beweis genügen. Hintergrund sind 16.660 neue Verdachtsfälle im Jahr 2024, von denen knapp 29 % bestätigt wurden.
Im Rahmen des Behandlungsfehler-Managements sind den elf AOKs allein im vergangenen Jahr insgesamt 16.660 neue Fälle von vermuteten Behandlungs- oder Pflegefehlern bekannt geworden. Bei knapp 29 Prozent der 2024 abschließend bearbeiteten Fälle konnte im Rahmen von Begutachtungen ein Fehler oder ein Medizinprodukte-Schaden bestätigt werden. „Wir wissen aus der Beratung, dass viele Versicherte nach wie vor große Probleme bei der Durchsetzung ihrer Rechte haben“, betont AOK-Vorständin Carola Reimann. In einem Positionspapier zur Weiterentwicklung der Patientenrechte fordert die AOK-Gemeinschaft daher unter anderem Erleichterungen bei der Beweislast: „Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 Prozent sollte künftig als Beweis für den Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden ausreichen“, so Reimann.
Verdachtsfälle betreffen häufig orthopädische oder unfallchirurgische Eingriffe
Die meisten der im vergangenen Jahr von AOK-Versicherten gemeldeten Verdachtsfälle betrafen orthopädische oder unfallchirurgische Eingriffe, gefolgt von den Fachgebieten Chirurgie, Frauenheilkunde und Geburtsmedizin, Innere Medizin sowie Zahnmedizin. Insgesamt 5.335 gemeldete Fälle wurden im Zuge der Beratung näher untersucht. In 28,6 Prozent der 2024 abschließend geprüften Fälle konnte der Verdacht auf einen Behandlungs- oder Pflegefehler bestätigt werden. Dies geschah überwiegend mit Unterstützung des Medizinischen Dienstes (MD), der die notwendigen Gutachten zur Bewertung der Fälle erstellt. Die Quote der bestätigten Fälle lag 2024 ungefähr auf dem Niveau der Vorjahre (2023: 28,6 Prozent, 2024: 29,2 Prozent).
Beweislast auf überwiegende Wahrscheinlichkeit reduzieren
In ihrem Positionspapier zur Stärkung der Rechte von Patientinnen und Patienten bei Behandlungs- und Pflegefehlern sowie bei Arzneimittel- und Medizinprodukteschäden fordert die AOK vor allem eine Verbesserung der Patienten-Position im Schadensfall. Die Beweislast für alle Gesundheitsschäden müsse auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 Prozent reduziert werden. Aktuell müssen die Betroffenen darlegen und beweisen, dass der eingetretene Schaden vollumfänglich durch den Fehler verursacht wurde. Zuvor muss aber nachgewiesen werden, dass überhaupt ein Schaden und Fehler vorliegt. Dafür sind die Behandlungsunterlagen eine wichtige Grundlage. Daher fordert die AOK für die Patientinnen und Patienten auch eine umfassende Akteneinsicht. Es brauche eine rechtliche Klarstellung, dass dieses Einsichtsrecht auch die Metadaten elektronisch geführter Patientenakten umfasse. Diese Metadaten enthalten unter anderem die Zugriffe auf die Akte und die Änderungshistorie. Darüber hinaus müsse der Gesetzgeber die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu den Kosten für die Anfertigung der ersten Kopie einer Patientenakte aus dem Jahre 2023 in nationales Recht überführen. Die Berücksichtigung des Themas in einem aktuellen Gesetzesentwurf aus dem Bundesjustizministerium sei ein richtiger Schritt zur Umsetzung.
Nachweis von Schäden durch Arzneimittel bisher „praktisch unmöglich“
Besonderen Nachbesserungsbedarf sieht die AOK beim Nachweis von Schäden durch die Einnahme von Arzneimitteln, die bisher „praktisch unmöglich“ sei. „Hier müssen die Patientinnen und Patienten in Deutschland überhaupt erst einmal in die Lage versetzt werden, Ansprüche auf Schadenersatz durchsetzen zu können“, so AOK-Vorständin Carola Reimann. Das 2013 in Kraft getretene Patientenrechtegesetz brauche insgesamt dringend ein „Update“, betont Reimann. „Das Thema ist in den letzten beiden Legislaturperioden trotz vieler Beteuerungen in Sonntagsreden nicht angepackt worden. Jetzt sollte die schwarz-rote Koalition den vielen Worten endlich Taten folgen lassen.“
Informationen zu Eigentumsrechten an Medizinprodukten verbessern
Zu den Forderungen der AOK im Positionspapier gehört auch die Verbesserung der Information zu Eigentumsrechten der Patientinnen und Patienten an schadhaften Medizinprodukten. „Oft gibt es das Problem, dass Beweismittel wie beispielsweise entfernte Knieprothesen nicht mehr auffindbar sind oder bei der Untersuchung durch den Hersteller zerstört werden. Die Explantate sind aber Eigentum der Patientinnen und Patienten und sollten mindestens drei Jahre aufbewahrt werden, damit sie als Beweismittel in Prozessen verwendet werden können“, fordert Reimann. Zudem sollten Angaben zu den verwendeten Medizinprodukten routinemäßig und verpflichtend in den an die Kassen übermittelten Abrechnungsdaten von niedergelassenen Ärzten und Kliniken dokumentiert werden, um auf Grundlage dieser Informationen im Schadensfall eine schnelle und unbürokratische Aufklärung und Entschädigung der betroffenen Patientinnen und Patienten zu erleichtern.
Das Positionspapier der AOK-Gemeinschaft enthält darüber hinaus die Forderung, dass Patientinnen und Patienten aktiv über Behandlungsfehler oder Schäden durch Medizinprodukte informiert werden - auch ohne Nachfragen. „Die gesetzlichen Regelungen müssen an diesem Punkt dringend nachgebessert werden“, so Reimann. „Dabei sollten auch die Offenlegungspflichten aus der EU-Produkthaftungsrichtlinie umgesetzt werden.“
Allein 2024 Regresszahlungen in Höhe von knapp 50 Millionen Euro
Die AOK verweist in diesem Zusamenhang auch auf die Folgekosten von fehlerhaften Behandlungen und schadhaften Medizinprodukten - beispielsweise für Re-Operationen und wiederholte Krankenhausaufenthalte. Diese seien für die Gemeinschaft der Beitragszahlenden hoch. Die Krankenkassen verfolgen die auf sie übergegangenen Schadenersatzansprüche und machen diese Kosten gegenüber den Leistungserbringern geltend. Das Volumen der von den elf AOKs durchgesetzten Regress-Zahlungen lag allein 2024 bei 49,73 Millionen Euro und damit etwa auf dem Niveau des Vorjahres (2023: 50,80 Millionen Euro).