Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Praxisführung

Vor Ihnen sitzt eine unsicher dreinschauende Patientin ohne wirkliche Deutschkenntnisse und ihr Mann bietet sich an, das Gespräch zu übersetzen? Vorsicht, das ist dünnes Eis! Denn weder ist die Korrektheit der Vermittlung auf diese Weise gesichert, noch ihre Vollständigkeit. Darüber hinaus ist es in einem solchen Kontext für die Patientin kaum möglich, etwa von einer früheren Abtreibung oder Geschlechtskrankheit zu erzählen. Das gilt unter Umständen auch dann, wenn nicht der Ehemann, sondern Verwandte die Patientin in die Praxis begleiten, auch wenn sie weiblich sind.

Weil Ärztinnen und Ärzte dazu verpflichtet sind, Patienten im Vorfeld einer Behandlung umfassend über Art, Umfang und Risiken der Behandlung aufzuklären (§ 630e Abs. 1 BGB), muss bei Bedarf ein professioneller Dolmetscher beteiligt werden. Bei Patienten mit Duldung und Aufenthaltsgestattung, die Grundleistungen innerhalb der ersten 15 Monate erhalten (nach §§ 3,4 und 6 AsylbLG), werden die Dolmetscherkosten bei Therapie und medizinischen Behandlungen durch das Sozialamt erstattet. Wichtig: Außer bei medizinischen Notfällen muss der Antrag vor der Behandlung gestellt werden.

Nach Ablauf der ersten 15 Monate erhalten Patienten mit Duldung und Aufenthaltsgestattung (§ 2 AsylbLG entsprechend SGB XII) eine Gesundheitskarte, deren Leistungsumfang weitestgehend der GKV entspricht. Dolmetscherkosten gehören jedoch nicht zum Leistungsumfang der GKV. In Einzelfällen übernimmt aber das Sozialamt die Kosten. Bei Patienten, die Leistungsbeziehende nach dem SGB II und in der GKV versichert sind, übernimmt die GKV die Kosten für Dolmetscher nicht (Bundessozialgericht Urteil vom 19.7.2006, Az. B 6 KA 33/05 B).

Dolmetscher hinzuziehen

Es gibt die Möglichkeit, statt eines reinen Dolmetschers einen professionellen Sprach- und Kulturvermittler hinzuzu­ziehen. Er oder sie sollte die politische, religiöse, sexuelle und ethnische Zugehörigkeit des Patienten oder der Patientin möglichst spiegeln. Aktuelle Erfahrungen mit der jeweiligen Kultur können dabei von unschätzbarem Wert sein. Denn kulturelle Deutungsmuster befinden sich auch im zeitlichen Wandel.

Sogenannte Sprach- und Integrationsmittlerinnen und -mittler (SIM) haben selbst Migrationserfahrung und werden in mehreren Bundesländern (NRW, Bayern, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin) nach bundesweit einheitlichen Kriterien und Qualitätsstandards ein bis zwei Jahre lang ausgebildet. In rund 2.000 Unterrichtseinheiten inklusive einer praxisbezogenen Fortbildungseinheit lernen angehende SIM, professionell zu dolmetschen, fachspezifisch und kultursensibel zu vermitteln und bei Missverständnissen zu intervenieren. So tragen SIM zum Sicherheitsgefühl der Patienten bei und stärken das Vertrauen in die Situation.
Eine bundesweite Vermittlung von SIM erfolgt beispielsweise über www.sprachundintegrationsmittler.org.

Anteil Bevölkerung mit Migrationshintergrund

 

Es geht nicht nur um sprachliche Barrieren

Das kultursensible Brückenbauen lohnt sich. Denn längst nicht nur sind es Wörter, die übersetzt werden müssen. Ganze mentale Konzepte von Gesundheit und Krankheit spielen hier in die Arzt-Patient-Kommunikation hinein. Wie jemand seine Krankheit erlebt, schildert und bewertet, hängt in hohem Maße von seiner Sozialisation ab. Schilderungen von Empfindungsstörungen, die geradezu psychotisch wirken können, haben eventuell ihren Ursprung schlicht im kulturellen Deutungsschema und Volksglauben (Hausotter, Schouler-Ocak 2013). Andererseits können bestimmte Krankheiten (Hausotter, Schouler-Ocak 2013) in der Herkunftskultur auch tabuisiert sein (Ipsiroglu, Bode 2005). In islamischen Kulturkreisen beispielsweise werden besonders bei psychischen Erkrankungen verstärkt die Familienstrukturen in Anspruch genommen, um das Leiden zu bewältigen. Hilfe von außen wird oft erst dann gesucht, wenn sich eine Krise zuspitzt. Mehr dazu im zweiten Teil dieser Fortbildung.

In einigen islamischen Gesellschaften wird das Händeschütteln zwischen Männern und Frauen zum Teil abgelehnt. Bild: takasu – stock.adobe.com

Auch das Schamgefühl hinsichtlich des Körpers ist im Islam stärker ausgeprägt, als in unserer christlich-abendländischen Kultur. Der Körper gilt als Geschenk Gottes (Kronenthaler et al. 2014). Seine Verhüllung und die Vermeidung von Körperkontakt durch das andere Geschlecht sind oft Teil der religiösen Praxis. Werden diese Grenzen überschritten, wird dies von Patientinnen und Patienten oft als unangenehm empfunden. Ideal ist es also, wenn das Geschlecht von Behandler und Behandeltem übereinstimmen.

Eine weitere Besonderheit ist die oftmals sehr stark ausgeprägte Achtung vor Autoritäten, mit der Migranten in die Praxis kommen (Ipsiroglu, Bode 2005). Das kann beispielsweise dazu führen, dass sie Entscheidungen nicht gemeinsam mit ihrem Arzt treffen wollen, sondern die ganze Last ihm überlassen möchten (Terzioglu, Feige 2004). Statt von einem partnerschaftlichen Verhältnis gehen sie tendenziell eher von einer klassisch paternalistischen Arzt-Patienten-Beziehung aus.

Frauen häufiger mit Sprachproblemen

Frauen mit Migrationshintergrund sind häufiger als Männer durch mangelnde Sprachkenntnisse und einen niedrigen Bildungsgrad von gesundheitsfördernden Informationen ausgeschlossen. Das führt zum einen dazu, dass sie unter Umständen zusätzliche Erläuterungen zum Krankheitsbild brauchen, die in Deutschland meist zur Allgemeinbildung gehören. Zum anderen fühlen sie sich jedoch nachvollziehbarerweise besonders unsicher, wenn sie eine Entscheidung treffen sollen. Es macht dabei oft einen Unterschied, ob die Migranten aus einer Großstadt kommen oder eher aus sehr konservativ geprägten ländlichen Regionen, mit nur wenig Zugang zu Bildung und patriarchalisch autokratischen Familienstrukturen. Die Frage: „Wo haben Sie denn vorher gelebt?“ ist also weit mehr als freundliche Plauderei. Die Antwort gibt Ihnen wertvolle Hinweise darüber, mit welchem Wissensstand Sie es möglicherweise zu tun haben. Im Idealfall helfen zudem Informationsbroschüren in der Herkunftssprache, einen Einstieg ins Thema zu ermöglichen.

Migrantenkinder haben häufiger Zahnprobleme

Wie sehr sich die Bildung der Eltern auf die Gesundheit der Familie auswirkt, wird am Beispiel der Zahnmedizin deutlich. Migrantenkinder zeigen im Vergleich zu deutschen Kindern eine signifikant höhere Prävalenz an Karies und nehmen zahnärztliche Leistungen unterdurchschnittlich oft in Anspruch (Arbeitsgruppe Armut und Gesundheit 2001, van Steenkiste 2004). Spätestens im Erwachsenenalter kann das zu Kauproblemen führen und beispielsweise über eine Parodontitis den Allgemeinzustand massiv beeinträchtigen. Mit gelungener Integration gleicht sich allerdings das relative Risiko an, ebenso wie bei Verhaltensauffälligkeiten und Ängsten bei niederländischen und surinamesischen Kindern (Driouch 2011).

Migrantinnen haben häufiger problematische Schwangerschaftsverläufe mit überproportional vielen Fehl-, Tot- oder Frühgeburten (Terzioglu, Feige 2004). Auch die Erkrankungshäufigkeit von Säuglingen und ihre Sterblichkeit sind erhöht (Appelt 2003, Baldaszti & Wimmer-Puchinger, 2003). Zudem sind sie vermehrt häuslicher körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt, schreibt der Dachverband der transkulturellen Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im deutschsprachigen Raum e.V. (DTPPP). Ohne ausreichendes soziales Netzwerk ist die psychische Belastung enorm hoch.

Warum Migranten häufiger krank sind

Migranten sind erhöhten Gesundheitsrisiken ausgesetzt. Sie fehlen überdurchschnittlich häufig krankheitsbedingt im Betrieb, ihr Unfallrisiko ist höher, sie leiden öfter unter akuten psychosomatischen Befindlichkeitsstörungen (Terzioglu, Feige 2004). Das ist auch den Beschäftigungsverhältnissen geschuldet. Denn Arbeitsplätze für Menschen mit Migrationshintergrund zeichnen sich häufig durch eine starke Beanspruchung bei geringem Verdienst aus. Kommen noch Schichtarbeit, ungünstige körperliche Haltungen und Umgebungsverhältnisse hinzu, hat dieser Mensch eine deutlich höhere Belastung auszuhalten, als der durchschnittliche Sachbearbeiter im Büro. Auch Erkrankungen des Skelett- und Stützsystems treten vermehrt auf (Terzioglu, Feige 2004, Yildirim-Fahlbusch 2003). Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, dass es zu längeren Arbeitsunfähigkeitszeiten kommt. Sogar von einer Frühberentung ist der Personenkreis der sogenannten Gastarbeiter früher betroffen, obwohl gerade diese Menschen in der Anwerbephase 1955–1973 die medizinischen Kontrollen der Anwerbekommissionen mit überdurchschnittlich gutem Gesundheitszustand durchliefen (Berg 1998).

Eine Reihe regionaler Studien zeigt, dass Menschen mit Migrationshintergrund durchschnittlich zehn Jahre früher als die deutsche Bevölkerung an chronischen Erkrankungen wie etwa Verschleiß leidet. Auch Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre treten bei ihnen häufiger auf. Patienten mit Migrationshintergrund kommen öfter in Notfallambulanzen, werden häufiger hospitalisiert und verweilen länger im Krankenhaus.

Hinzu kommen schwerwiegende psychische Belastungen. Migranten und insbesonders geflüchtete Menschen haben einschneidende Lebensereignisse zu verarbeiten, lebenslange Trennungen und den Verlust von Angehörigen und Freunden. Gerade deshalb verläuft die Trauerarbeit oft unzureichend. Je nach Analyse leiden außerdem zwischen 5 und 30 Prozent der Asylsuchenden unter behandlungsbedürftigen posttraumatischen Störungen (Hausotter, Schouler-Ocak 2013). Vertreibung und Verlust können auch zu Verbitterung und Depression führen (Thomann 1994, Schouler-Ocak, Hausotter 2013).

Probleme mit der Medikation

Ein unsicherer Aufenthaltsstatus belastet geflüchtete Menschen, sodass sie zu Angst, Panikattacken, Schlafstörungen und Schmerzen neigen können, wenn der Termin zur Verlängerung der Duldung näher rückt. Gleichzeitig fehlen sicherheitsvermittelnde Faktoren wie die soziale Einbindung und Akzeptanz. Gerade im Alter wird die Großfamilie in der Heimat schmerzlich vermisst, die sich um denPatienten gekümmert hätte. Eine unpersönliche Behandlung kann für diese Patienten besonders schwer zu ertragen sein.

Eine starke Arzt-Patienten-Bindung schützt vor unkontrolliertem Einsammeln von Verschreibungen in verschiedenen Praxen. Bild: ©fotoyou – stock.adobe.com

Die Compliance der Patienten mit Migrationshintergrund ist sehr unterschiedlich und hängt stark vom Gefühl ab, angenommen und verstanden zu werden. Andernfalls setzt ein unkontrolliertes „doctor shopping“ ein (Hausotter, Schouler-Ocak 2013). Nicht selten führen dann unzureichende Kommunikation über Vordiagnosen und bereits verschriebene Medikamente zu einem abenteuerlichen Medikamenten-Mix, von denen auch nicht alle Tabletten unbedingt vorschriftsgemäß eingenommen werden. Branik und Mulhaxha (2000) schildern es im psychotherapeutisch-psychiatrischen Kontext so: „ein Cocktail aus Psychopharmaka (ggf. nebst hochdosierter Schmerzmittel), der kaum ein psychiatrisches Zielsyndrom auslässt und jeden seriösen Psychiater schaudern lässt.“ Sie folgern, dass „das verfahrene Missverständnis zwischen den präsentierten Symptomen und den Interpretationsrastern der Ärzte durch immer mehr organmedizinische Interventionen fixiert und die beklagte Somatisierung ia­trogen gefördert“ wird. Eine starke Arzt-Patienten-Bindung ist der beste Weg, um diese Menschen vor derlei Fehlentwicklungen zu bewahren.

Teil 2:

Schmerzausdruck & Krankheitsbewältigung

Überdramatisch, scheinbar wirr oder sogar von magischen Vorstellungen durchsetzt – die Schilderungen von Patienten aus anderen Kulturkreisen geben oft Rätsel auf. Doch dahinter stecken Muster.

Kommt Ihnen ein Schmerzausdruck manchmal etwas übertrieben vor, wenn Sie ihn mit dem Befund abgleichen? Die Gesten, vielleicht sogar das Verhalten ein wenig ausufernd? Dahinter stecken gute Gründe.

Bei Migranten werden mehr Schmerzregionen festgestellt als bei deutschen Patienten und eine höhere Schmerzintensität. Das schildern Wolfgang Hausotter und Meryam Schouler-Ocak in ihrer umfassenden „Begutachtung bei Menschen mit Migrationshintergrund“ (Urban & Fischer 2013). Der vorgebrachte „Schmerz“ bzw. dessen Wahrnehmung korreliert demnach scheinbar weniger mit der Schwere der Krankheit als bei deutschen Patienten. Dabei ist zuallererst zu bedenken, dass ein bewusst oder unbewusst überbetonter Schmerzausdruck auch Kompensation für Kommunikationsprobleme darstellen kann. Je weniger die Person glaubt, sich verständlich machen zu können, desto leichter kann das zu histrionisch anmutendem Verhalten führen. Große, leidensbetonte Gesten kollidieren dann vielleicht mit der nüchternen Erwartung im Praxisalltag, die für ausufernde Darstellungen wenig Platz hat. Doch Wegschauen oder schnelles Beschwichtigen könnten den Patienten dazu veranlassen, seine Probleme noch deutlicher zum Ausdruck zu bringen. Sogar eine Regres­sion auf präverbale, körperliche Formen der Kommunikation ist möglich (Hansotter, Schouler-Ocak 2013).

Im Rahmen einer Studie an der Charité untersuchten Borde et al. (2004) Schmerzschilderungen von Migranten mit verschiedenen Hintergründen: türkisch/kurdisch, aus Ex-Jugoslawien, arabisch, persisch, asiatisch und afrikanisch. Insgesamt gaben sie mehr Schmerzregionen an als deutsche Patienten und deutlich höhere Schmerzintensitäten. Dabei waren sie mit durchschnittlich 50 Jahren deutlich jünger als der Durchschnitt der deutschen Patienten mit ihren durchschnittlich 69 Jahren. Dafür sehen Borde et al. verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Aus ihrer Sicht könnte kulturbedingt tatsächlich eine andere Schmerzwahrnehmung vorliegen. Ein Verstärken, um beachtet und behandelt zu werden, schließen die Forscher aber ebenfalls nicht aus.

Eine graduelle Einschätzung des Leidensdrucks, am besten anhand eines standardisierten Fragebogens, ist allerdings ein zutiefst westliches Konzept und nicht allen Migranten bekannt (Nesterko, Kaiser, Glaesmer 2016). Je mehr die orale Kultur im Herkunftsland der Schriftsprache vorherrscht, desto stärker wird die Krankheitsnarration von der linearen, ich-zentrierten Schilderung deutscher Patienten abweichen (ebd.).

Besonders schwierig ist es für Nicht-Muttersprachler, die Qualität eines Schmerzes zu beschreiben. Schon deutsche Patienten tun sich oftmals schwer damit, einzuordnen, ob dieser nun eher dumpf oder pelzig ist. Das Wort „Schmerz“ kann zudem für alle möglichen Missempfindungen zum Einsatz kommen, weil dem Nicht-Muttersprachler ein präziseres Vokabular fehlt. Könnte das eine Teil-Erklärung dafür sein, dass der angegebene Schmerz manchmal nicht mit den organischen Befunden korreliert? Gegebenenfalls steht „Schmerz“ sogar für psychisches Leid. Eine Behandlung mit Schmerzmitteln brächte dann selbstverständlich nicht den erwarteten Erfolg. Ein professioneller Dolmetscher oder Sprach- und Integrationsmittler hilft, solchen Missverständnissen vorzubeugen.

Wenn die Schule nicht oder nur kurz besucht wurde, können geringe Kenntnisse des eigenen Körpers zu merkwürdigen Vorstellungen beitragen. Das kann ein weiterer Grund sein, weshalb das Geschehen oft weniger präzise benannt werden kann, als man es von den meisten deutschen Patienten gewohnt ist. Diese vagen Andeutungen sind natürlich nicht so effizient wie im Praxisalltag erhofft. Doch durch Ungeduld ist das Problem nicht zu beheben.

Während im Westen jenseits von Psychosomatik und Psychoneuroimmunologie hauptsächlich organ- bzw. gewebe- und strukturbezogen gedacht wird, herrscht in vielen Herkunftsländern eine für uns ungewohnt ganzheitliche Idee von Krankheit und Gesundheit vor. Auch das beeinflusst die Wahrnehmung, sodass es unter Umständen schwerer fällt, klar abgegrenzte Symptome aufzuzählen. Man fühlt sich eher als Ganzes von der Krankheit ergriffen (Ete 1995). Das Erleben und Bewältigen von Krankheit unterscheidet sich oftmals ganz grundlegend zwischen verschiedenen Kulturkreisen. So kann von Patienten aus dem mediterranen Raum beispielsweise formuliert werden „Alles kaputt“ (Hausotter, Schouler-Ocak 2013). Es ist zudem die kulturelle Norm, das eigene Leid auszuagieren und andere darin zu involvieren (ebd.). Das steht im Kontrast zu Mittel- und Nordeuropäern, die meist eher versuchen, sich möglichst wenig anmerken zu lassen.

Während hierzulande ein großes Verständnis dafür herrscht, dass auch innere Faktoren zur Entstehung von Krankheit führen können, gilt vielen Menschen in südosteuropäischen Ländern eine Krankheit als etwas, das primär von außen kommt – sei es durch materielle Faktoren wie Wasser oder Luft, aber auch – vor allem bei der ländlichen Bevölkerung – durch Immaterielles wie den „bösen Blick“ oder „böse Geister“. Letztgenannte spielen bei der volkstümlichen Erklärung von Depressionen, Müdigkeit und Unwohlsein eine große Rolle, aber auch bei Epilepsie, Lähmungen oder Psychosen (ebd.). Deshalb werden insbesondere für Erkrankungen dieser Art gerne traditionelle Methoden und Volksmediziner in Anspruch genommen.

Offiziell sind im Islam magische Vorstellungen nicht erwünscht. Dennoch dient der Hodscha (türk. Hoca: der Korankundige) auch als Autorität in medizinischen Fragen und bedient sich dabei unter Umständen Amuletten oder Beschwörungen. Auch Ernährungsratschläge werden erteilt (Hausotter, Schouler-Ocak 2013). Der Einfluss des Hodschas ist nicht zu unterschätzen, zumal ihm oft mindestens die Fähigkeiten eines deutschen Heilpraktikers, wenn nicht gar die eines Wunderheilers zugetraut werden. Im Arzt-Patienten-Gespräch sollte ganz selbstverständlich und ohne mitschwingende Vorurteile im Tonfall angesprochen werden, ob bereits ein Heilkundiger aus der eigenen Kultur involviert ist.

Verwirrend kann es sein, wenn Patienten Idiome (Nesterko, Kaiser, Glaeser 2016) oder Organchiffren verwenden, die unserem Kulturkreis fremd sind. So sprechen türkische Patienten vielleicht vom (Zer-)Fallen der Leber, was dem Arzt zunächst einfach als Auskunft dazu dienen sollte, dass etwas gerade nicht mehr in Balance ist (Yildirim- Fahlbusch 2003). Anders ausgedrückt: „Herr oder Frau Doktor, mir wird gerade alles zu viel.“

Eine Somatisierung kann grundsätzlich auch ein Schutz vor Überforderung und Gesichtsverlust sein. Migranten – und im verstärkten Maße geflüchtete Menschen – müssen sehr viele Herausforderungen bewältigen: unter Umständen Diskriminierung, rechtliche Unsicherheit, fehlende Planbarkeit der Zukunft, geringe Kon­trolle, verbunden mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins sowie der Verlust des bisher tragenden sozialen Netzes. Das erfordert eine hohe Anpassungsleistung und könnte wiederum einen Teil des erhöhten Morbiditätsrisikos erklären (Collatz et al. 1997, von Uexküll et al. 2002).

Grafik Anteil Migranten Bundesländer

Der Kranke wird zum Mittelpunkt

Der Umgang mit Körperkontakt kann sich von unserem auf mehreren Ebenen unterscheiden. Während das Händeschütteln in manchen Fällen bereits als Überschreitung der Intimsphäre betrachtet wird, kommen im selben Kulturkreis unter Umständen bei Krisen häufiger als bei uns Umarmungen oder eine tröstende Hand auf der Schulter zum Einsatz (Hausotter, Schouler-Ocak 2013). Ein weiterer Unterschied zeigt sich beim Umgang mit der Krankheit. Während Patienten im Westen sich meist eher zurückziehen und ihre Ruhe haben möchten, ist in östlichen Ländern oft genau das Gegenteil der Fall (Peseschkian 1998). In vielen Herkunftsländern wird das Bett des Kranken sogar im Wohnzimmer aufgestellt, wo er fortan zum Mittelpunkt des Geschehens wird und außerdem viel Besuch bekommt und erwartet (Hausotter, Schouler-Ocak 2013). Denn soziale Zuwendung gilt dort als Teil des Genesungsprozesses.

Während der westliche Patient eher Ruhe sucht, wird er in vielen anderen Kulturen zum Mittelpunkt des Geschehens. Bild: WONG SZE FEI - stock.adobe.com

Während der westliche Patient eher Ruhe sucht, wird er in vielen anderen Kulturen zum Mittelpunkt des Geschehens. Bild: WONG SZE FEI – stock.adobe.com

So kommt es zu Ansammlungen von Menschenmassen in den Zimmern und auf den Fluren der Krankenhäuser, die sowohl das Pflegepersonal als auch Mitpatienten durchaus schon einmal irritiert haben sollen (Ilkilic 2005). Vor diesem Hintergrund ist die Zahl der Besucher leichter zu verstehen. Werden aber Abläufe behindert, kann darauf bzw. auf die Rücksichtnahme zugunsten anderer Patienten selbstverständlich dennoch hingewiesen werden. Übrigens: Werden Pflegenden oder Ärzten kleine Geschenke wie Pistazien oder Pralinen mitgebracht, so ist dies als reiner Dank gemeint und kein Bestechungsversuch ist zu befürchten (Akbari 2008). Der große soziale Zusammenhalt lässt sich auch gewinnbringend nutzen, um die Compliance des Patienten zu fördern. Sind Vater, Mutter, Onkel, Tante involviert, wird der Patient sehr oft an seine Tabletteneinnahme erinnert werden. Da Achtung und Loyalität zur Familie zudem eine größere Rolle spielen als in westlichen, individualisierten Gesellschaften, wird Aufforderungen aus diesem Kreis auch eher Folge geleistet.

Koran und Schwangerschaft

Der unschätzbare Wert kulturerfahrenen Personals oder von Sprach- und Integrationsmittlern (siehe weiter oben) wird anhand einer Fallschilderung von Terzioglu et al. (2004) deutlich. Sie berichten von einer 20-Jährigen mit Kreislaufkollaps in der 30. Schwangerschaftswoche. Diese wollte den Ramadan durchhalten und nur vor und nach Sonnenauf- bzw. -untergang etwas zu sich nehmen. Gleichzeitig litt sie aber unter einem Gestationsdiabetes. Das Problem wurde dadurch gelöst, dass die kulturkundige Ärztin „ihr aus dem Koran die entsprechende Stelle zitierte, in der dargelegt wird, dass Schwangere und Kranke von ihrer Pflicht zu fasten befreit sind. Es gibt auch zusätzlich die Möglichkeit, wenn die Schwangerschaft und Stillzeit oder auch die Krankheit beendet sind, die fehlenden Tage des Fastenmonats nachzuholen.“ Mit dieser Argumentation hatte die Ärztin Erfolg. Die Patientin holte die fehlenden Fastentage später nach.

 A&W-KOMPAKT: Erleben & beschreiben

  • Gestik, Mimik und Tonfall werden intensiver, wenn adäquate verbale Mittel fehlen.
  • Häufiger als bei uns fühlt sich der Mensch als Ganzes von der Krankheit ergriffen.
  • Absurd klingende Beschreibungen der Organe können Idiomen entstammen.
  • Soziale Unterstützung gilt als wesentlicher Teil der Genesung.