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Arbeitsrecht

Damit hatten die wenigsten gerechnet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 16.02.2021 eine überraschend restriktive Entscheidung zum Whistleblowing getroffen (Beschwerdenummer 23922/19).

Im konkreten Fall ging es um den stellvertretenden Chefarzt des liechtensteinischen Landeshospitals. Bei einer Recherche in den elektronischen Akten der Klinik hatte er festgestellt, dass zehn Patienten kurz nach der Verabreichung von Morphin verstorben waren. Eine medizinische Indikation für die Gabe des Opiats war nicht erkennbar. Bei gerade einmal 34 Betten im Spital waren zudem verhältnismäßig viele Patienten betroffen.

Ebenfalls aus den elektronischen Akten schloss der Arzt, dass sein Vorgesetzter, der behandelnde und leitende Chefarzt, aktive Sterbehilfe an den verstorbenen Patienten praktiziert haben musste. Er wandte sich daraufhin an das parlamentarische Kontrollorgan des Fürstentums, das ihm zur Erstattung der Strafanzeige gegen seinen Vorgesetzten riet. Das internen Whistleblowing-Systems der Klinik, in der sich Missstände auch anonym anzeigen lassen, nutzte der Arzt nicht.

Wer andere verpfeift, muss sauber recherchieren

Im Zuge der anschließenden Untersuchungen kamen mehrere Experten für Palliativmedizin zu dem Schluss, dass es in den zehn beanstandeten Fällen keine aktive Sterbehilfe gegeben habe, sondern der Chefarzt eine rechtmäßige palliativmedizinische Behandlung der Patienten durchgeführt habe, die sich allesamt am Lebensende befunden hatten. Die entsprechenden Informationen hierzu fanden sich jedoch nur in Papierakten, nicht hingegen in den elektronischen Akten, die der Vize-Chefarzt konsultiert hatte. Einer der Experten wies denn auch darauf hin, dass die Akten der Klinik besser geführt hätten, werden können. Der Whistleblower-Arzt wurde dennoch trotzdem fristlos entlassen, woraufhin er sich erfolglos zunächst durch alle Instanzen klagte und sodann an den EGMR wandte. Doch auch in Straßburg konnte er seine Kündigung nicht zu Fall bringen.

Auch der EGMR hielt den Rauswurf für rechtens, da der Vize-Chefarzt seine Anzeige nicht ausreichend verifiziert habe. Als stellvertretendem Chefarzt sei ihm bekannt gewesen, dass die elektronischen Akten gelegentlich nicht vollständig seien, so dass er vor der Strafanzeige auch einen Blick in die Papierakten hätte werfen müssen. Ob der Arzt seinen Verdacht zunächst intern habe melden müssen, ließ das Gericht offen.
Juristen bewerten diese Entscheidung kritisch und raten Whistleblowern auch in Deutschland dazu, ihre Quellen extrem akribisch zu prüfen, bevor sie eine externe Stelle über interne Missstände informieren. Dennoch dürfte die Bedeutung der Straßburger Entscheidung eher gering bleiben: Der Gesetzgeber wird wohl noch im Laufe des Jahres 2021 ein neues Gesetz zum Hinweisgeberschutz erlassen und damit die Behandlung von Whistleblowern in Deutschland auf eine neue Grundlage stellen.