Impfmüdigkeit unter der Lupe: Was beeinflusst die Impfentscheidung?
Marcus SefrinWie sind die Zusammenhänge zwischen Impfintention, Wissen und psychologischen Gründen für die Impfentscheidung? Das wurde jetzt im Rahmen des ALIVE-Projekts am Beispiel der Pneumokokken-Impfung bei Personen ab 60 untersucht. Vertrauen und Risikowahrnehmung zeigten sich als entscheidende Faktoren.
ALIVE-Projekt: 1.000 Patienten ab 60 zur Pneumokokken-Impfung befragt
Weltweit stellen Pneumokokken die häufigste Ursache für Morbidität und Mortalität bei Infektionen der unteren Atemwege dar. Im Rahmen des Innovationsfondsprojekts ALIVE („ALtersspezifische Impfinanspruchnahme VErbessern“) wurden 2022 in den KVen Westfalen-Lippe, Nordrhein und Schleswig-Holstein Patienten ab 60 Jahren von Hausarztpraxen rekrutiert und zur Pneumokokken-Impfintention befragt. 1.117 Patienten füllten den Fragebogen aus, 1.000 konnten ausgewertet werden. Auf Basis dieser Daten haben Wissenschaftler jetzt die Zusammenhänge zwischen Impfintention, Wissen und psychologischen Gründen für die Impfentscheidung untersucht.
Vertrauen und Influenza-Impfung als stärkste Prädiktoren
Vertrauen in die Sicherheit von Impfungen und eine Influenza-Impfung in der letzten Saison waren in einer Korrelationsanalyse die stärksten Prädiktoren für die Pneumokokken-Impfintention. Zudem zeigt die Einschätzung des von einer Pneumokokken-Infektion ausgehenden Risikos einen signifikanten positiven Zusammenhang zur Impfintention. Impfkampagnen, die das Vertrauen und die Risikowahrnehmung erhöhen, könnten die Impfintention erhöhen, so die Autoren. Eine gleichzeitige Impfung gegen Influenza und Pneumokokken könnte nach ihrer Ansicht ebenfalls sinnvoll sein.
5C-Skala: Fünf psychologische Konstrukte des Impfverhaltens
Zur Erfassung der psychologischen Gründe des (Nicht-)Impfens wurde eine Skala (angelehnt an die Kurzform der impfbezogenen 5C-Skala nach Betsch et al.) genutzt. Sie erklärt Impfverhalten durch fünf psychologische Konstrukte: Vertrauen (Confidence) in die Sicherheit und Effektivität der Impfung sowie in das Gesundheitssystem, Risikowahrnehmung (Complacency), Barrieren (Constraints), Risiko-Nutzen-Abwägung (Calculation) und gesellschaftliche Verantwortung (Collective Responsibility). Die Wissenschaftler entwickelten mit den Ergebnissen ihrer Studie ein Modell, das die 5C-Skala in das Theory-of-planned-Behavior(TPB)-Modell integriert, das zur Erklärung und Vorhersage von individuellem Gesundheitsverhalten genutzt werden kann.
Wissen zeigt nur indirekten Einfluss auf Impfintention
Obwohl Wissen über Pneumokokken keinen direkten Zusammenhang zur Impfintention in der ebenfalls durchgeführten multivariaten Regressionsanalyse hatte, zeigte sich in der Korrelationsanalyse ein indirekter Einfluss über Variablen wie Risikowahrnehmung und Vertrauen, welche wiederum Prädiktoren der Impfintention darstellten. Wissen spielt somit eine indirekte Rolle, wie es laut den Autoren auch bei der COVID-19-Impfung der Fall ist. Um den genauen Einfluss von Wissen über Pneumokokken auf die Impfintention zu klären, brauche es aber wohl weitere Forschung.
Ärztliche Empfehlungen: Zentraler Faktor nicht untersucht
Die Autoren verweisen darauf, dass Empfehlungen von Ärzten bekanntermaßen die Impfentscheidung beeinflussen können. Dieser Aspekt ist in der Studie nicht berücksichtigt worden, sei jedoch zentraler Bestandteil der komplexen Intervention des ALIVE-Projekts.
Insgesamt ausbaufähig
Trotz Empfehlungen der STIKO bleibt die Impfquote gegen Pneumokokken bei über 60-Jährigen in Deutschland niedrig: Auswertungen von Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns zeigten für sie 2021 eine Impfquote von 20,1 Prozent – immerhin mehr als noch 2017 mit 2,4 Prozent.
Nordmann H et al. Bundesgesundheitsbl 2025;68:388–397