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Medizin

Orthopädische Einlagen selbst vermessen und dann bequem im Internet oder per Versand bestellen? Das klingt für viele Patienten verlockend. Aktuell locken einige Anbieter, wie die Kooperation von craftsoles und BARMER, mit tollen Angeboten, bei denen selbst die gesetzliche Zuzahlung entfällt. Doch für die Kunden könnte sich dies als schlechtes Geschäft erweisen, wie der auf Medizinrecht spezialisierte Rechtsanwalt Nico Stephan betont.

Orthopädische Einlagen besser nicht online bestellen

Sind die individuell gefertigten orthopädischen Schuhe oder Einlagen fehlerhaft oder treten infolgedessen gar gesundheitliche Schäden auf, kann die Durchsetzung von Haftungsansprüchen gegen die Leistungserbringer erheblich erschwert sein.

“Hier werden Aufgaben auf die Patientinnen und Patienten verlagert, die eigentlich in der Hand von Expert:innen liegen sollten. Kommt es allerdings zu einem Prozess, weil die gefertigten Einlagen fehlerhaft sind, könnten die verklagten Leistungserbringer einwenden: Wir sind nicht zuständig, da die Vermessung laut Vertrag nicht in unserer Hand liegt. Letztlich erschwert eine solche Vertragsgestaltung die Durchsetzung von Haftungs- und Gewährleistungsansprüchen”, unterstreicht Nico Stephan, Rechtsanwalt bei der Medizinrechts-Kanzlei STEPHAN & HEIN Rechtsanwälte.

Patient bleibt auf Kosten für Einlagen sitzen

Im besten Fall müsse eine neue Einlage gefertigt werden, welche von den Versicherten eventuell selbst zu zahlen sei. Im schlimmsten Fall führe die fehlerhafte Versorgung von Fersensporn, Hallux Rigidus oder Knick-Senk-Fuß zu gravierenden Folgeschäden wie einer Verschlechterung der Erkrankung. Auch in solchen Fällen geht es dann um die Klärung von Haftungsfragen. Werden die Risiken im Versorgungsvertrag aber in Richtung der Patienten verschoben, ergibt sich eine Schwächung ihrer Rechtsposition. Zum Beispiel stellt sich die Frage: Liegt der Fehler in der Messung oder in der Fertigung der Schuhe bzw. Schuheinlagen?

Stephan geht allerdings davon aus, dass eine solche Online-Einlagenversorgung, wie sie aktuell auch von einer Krankenkasse beworben wird, nicht zulässig sei und „eindeutig“ gegen das deutsche Sozialrecht (§ 127 Abs. 1 S. 4/S. 5 Sozialgesetzbuch SGB V) verstoße und die Qualitätsanforderungen des Hilfsmittelverzeichnisses sowie den Anspruch an eine wohnortnahe Versorgung unterlaufe. Zudem würden hierbei auch die Empfehlungen des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) ignoriert (Verstoß gegen § 126 Abs. 1a; § 126 Abs. 1 S. 3 SGB V).

Individuelle Messung ist bei orthopädischen Einlagen Pflicht

Schon in einer Stellungnahme der wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages von 2019 seien die Gesundheitshandwerke als gefahrgeneigte Handwerke gekennzeichnet worden, wie Stephan erklärt. Dort heißt es: “Im Bereich der Gesundheitshandwerke besteht vorwiegend die Gefahr von Gesundheitsschäden durch fehlerhafte Behandlungen, falsche Messungen oder Fehlanpassungen …” (Dokumentation: Einteilung der Gewerbe in der Handwerksordnung und das Kriterium der Gefahrgeneigtheit, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, 2019, S. 8). “Da liegt nach Ansicht des Gesetzgebers also ein Risiko. Allein schon durch die Zuordnung zu den gefahrgeneigten Handwerken sind Vermessung und Anpassung Leistungen, deren Qualität die qualifizierten Fachleute in den Betrieben der Leistungserbringer sicherstellen müssen und die sie selbst vorzunehmen haben. Denn aufgrund der hohen Gefahrneigung unterliegen diese Leistungen einer strengen Meisterpräsenzpflicht und Überwachung”, so Stephan.

Auch der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) kritisiert die Selbstvermessung durch die Patientinnen und Patienten: “Die korrekte Selbstvermessung, die craftsoles und BARMER von ihren Anwenderinnen und Anwendern verlangt, ist durch einen Laien nicht zu leisten”, unterstreicht BIV-OT-Präsident Alf Reuter. “Wir sehen hier eine grobe Verletzung notwendiger Qualitätsstandards in der Versorgung. Das Motto des craftsoles-/BARMER-Angebotes ‘Passt perfekt, passt zu Dir’ kann nur ironisch gemeint sein. Sollte eine dieser Einlagen bei den Betroffenen zu gesundheitlichen Folgeschäden führen – wer übernimmt dann die Haftung?“ Um hier Klarheit zu schaffen, hat der Bundesinnung BIV-OT das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) um Überprüfung des neuen Versorgungskonzepts des Anbieters craftsoles in Kooperation mit der BARMER Ersatzkasse gebeten.