CME-Fortbildung: Umgang mit schwierigen Patienten
Deborah WeinbuchBeleidigungen, Drohungen, körperliche Übergriffe — die Zahl aggressiver Zwischenfälle nimmt zu. Ärztinnen und Ärzte sowie ihre Mitarbeitenden geraten immer häufiger in schwierige oder gefährliche Situationen. Umso wichtiger sind erprobte Strategien, um Eskalationen frühzeitig zu erkennen und zu entschärfen.
Der Praxisalltag ist geprägt von hoher Taktung und vielfältigen Herausforderungen. Meist gelingt die Versorgung der Patienten dennoch reibungslos. Doch zunehmend wird der Umgang mit einzelnen Personen zur Belastungsprobe. Der Ton wird rauer, Übergriffe nehmen zu. Laut einer Umfrage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) von 2024 berichten 80 Prozent der Praxisteams von verbalen Attacken, 43 Prozent sogar von körperlicher Gewalt in den letzten fünf Jahren. Das gefährdet nicht nur Ärztinnen und Ärzte und ihre Teams, sondern unter Umständen auch die Mehrheit der friedlichen Patientinnen und Patienten.
In jüngster Zeit zeigt sich eine bedenkliche Zunahme an Enthemmung und Aggression. Das Spektrum reicht von Beleidigungen über Schubser bis hin zu gezielten Angriffen – wie im Fall eines Hausarztes in Spenge, der bewusstlos geschlagen wurde, weil er ein gewünschtes Medikament aus medizinischen Gründen verweigerte. Neben rechtlichem Schutz brauchen Praxisteams deshalb klare Strategien: Wie erkenne ich potenziell eskalierende Situationen frühzeitig? Wie schütze ich mein Team, andere Patienten und mich selbst?
Zunächst stellt sich die Frage nach den Wurzeln dieses unseligen Trends. Ein Grundproblem ist das gestiegene Anspruchsdenken. Immer häufiger fordern Patienten bestimmte Medikamente oder Untersuchungen – und reagieren ungehalten, wenn sie diese nicht bekommen. Auch die digitale Kommunikation trägt zur Verrohung bei. Wer sich online immer wieder ohne Konsequenzen impulsiv, polarisierend und ohne direkt sichtbares emotionales Feedback des Opfers äußert, überträgt dieses Verhalten eher auch in die Face-to-face-Kommunikation. Parasoziale Bindungen an reale oder vermeintliche Online-„Experten“ sowie algorithmisch verstärkte Echokammern fördern ein „Ich weiß es besser“-Denken – und unter Umständen auch ein Misstrauen gegenüber ärztlicher Expertise.
Hinzu kommt eine Art Konsumhaltung: Wer sich als „zahlender Kunde“ versteht, erwartet Service statt Dialog. Steigende Kassenbeiträge verstärken diese Haltung. Und nicht zuletzt zeigen viele Patienten mit belasteter Biografie eine ausgeprägte Reaktanz: Empfehlungen werden als Bevormundung erlebt, was Trotz oder offene Ablehnung provozieren kann – weil es ihnen als Kind eventuell nicht möglich war, gesunde Abgrenzung gegenüber übermächtigen Autoritäten oder Aushandlungsprozesse zu lernen.
Klare und ruhige Kommunikation
Kommunikative Kompetenz ist ein wesentliches Mittel der Deeskalation. Sie beginnt mit der inneren Haltung: Wer hinter aggressivem Verhalten das Bedürfnis der Person und dessen Wurzeln erkennt, sei es beispielsweise Angst, Kränkung oder Kontrollverlust, kann gezielter reagieren. Zentral sind dabei ein ruhiger Tonfall, langsames Sprechen, ein klarer Blickkontakt, ohne zu starren. Bitten Sie den Patienten, sich zu setzen, denn im Sitzen schreit es sich schlechter. Wiederholen Sie seine Aussage im ruhigen Ton – so fühlt er sich gehört, gleichzeitig wird das Niveau angehoben. Eine persönliche Ansprache („Herr Müller, ich sehe, Sie sind verärgert“) wirkt oft stabilisierend
Das Vier-Ohren-Modell
Ein Klassiker der Kommunikationspsychologie ist das Vier-Ohren-Modell nach Prof. Friedemann Schulz von Thun.
Demnach enthält jede Aussage vier Botschaften:
Sachebene: Was ist der Inhalt?
Selbstoffenbarung: Was gibt er über sich preis?
Beziehung: Was denkt der andere über mich?
Appell: Was soll ich tun?
Das Kommunikationsquadrat - Schulz von Thun Institut
Sagt ein Patient etwa: „Sie haben ja nie Zeit für mich!“, können wir den Frust persönlich nehmen — oder hören: „Ich fühle mich übersehen.“ Eine hilfreiche Reaktion wäre, auf diese Selbstoffenbarungsebene zu reagieren: „Ich verstehe, dass Sie sich mehr Zeit wünschen. Lassen Sie uns schauen, wie wir Ihr Anliegen bestmöglich in der verfügbaren Zeit besprechen können.“ So kann die Behandlung effizient fortgesetzt werden.
Bewusste Körpersprache
„Man kann nicht nicht kommunizieren“, sagte der Kommunikationspsychologe Prof. Paul Watzlawick. Auch Schweigen, Abwenden oder Seufzen senden eine Botschaft – oft unbeabsichtigt, aber wirksam. Viele Patienten reagieren auf solche Signale sensibel, insbesondere psychisch belastete Personen. Watzlawick wusste auch: Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt. Es zählt nicht nur was gesagt wird, sondern auch wie. Der Tonfall, der Blick, die Körperhaltung vermitteln, ob wir jemanden annehmen und ernst nehmen oder als Belastung empfinden. Oft werden negative Signale unbewusst gesendet – etwa bei Müdigkeit und Erschöpfung. Entsprechende körpersprachliche Muster können insbesondere für Patienten in seelischen Notlagen irritierend oder verletzend wirken: eine verschlossene Haltung, wenig Blickkontakt, ein angespannter Gesichtsausdruck. Diese Signale können als Desinteresse, Ablehnung oder Unsicherheit gedeutet werden – selbst wenn sie so nicht gemeint waren.
Eine aufrechte Haltung signalisiert hingegen Präsenz. Offene Arme, gegebenenfalls eine leicht seitliche Körperausrichtung wirken zugewandt, aber nicht konfrontativ. Ein ruhiger Blickkontakt und gelegentliches, bestätigendes Nicken stärken das Vertrauen. Auch ein kurzes Vorbeugen bei Interesse oder offene Hände unterstützen den Kontakt.
Viele Konflikte entstehen, weil sich Menschen nicht ausreichend gesehen oder gewürdigt fühlen. Wer sich abgelehnt oder übergangen fühlt, neigt eher zu Wut, Rückzug oder gar Aggression. Das Risiko steigt bei psychischer Instabilität oder negativen Autoritätserfahrungen. Auf betroffene Personen kann ein klarstellender Satz wie „Ich bin der Arzt“ wie eine bedrohliche Machtdemonstration wirken – mit potenziell eskalierender Wirkung. Umgekehrt kann eine ruhige und empathische Kommunikation deeskalieren. Schon kleine Signale helfen: aktives Zuhören und das Benennen von Emotionen: „Ich sehe, dass Sie wütend sind.“ So entsteht das Gefühl, wahrgenommen zu werden – oft ein erster Schritt zur Entspannung.
Selbstwert der Person stützen
In einer ausgelasteten Praxis entstehen Frustmomente oft schon im Wartezimmer: Werden später Gekommene ohne ersichtlichen Grund vorgelassen oder verlängert sich die Wartezeit stark, fühlen sich labile Persönlichkeiten schnell zurückgesetzt. Kommt dann im Gespräch mit der Ärztin oder dem Arzt nur wenig Blickkontakt, knappe Kommunikation und kaum Raum für Nachfragen hinzu, entsteht leicht der Eindruck: „Ich bin hier nicht wichtig.“ Die Folge: Missmut, Rückzug oder offene Aggression.
Beruhigend wirken ausreichende Information, Orientierung und Wertschätzung. Gerade in stressigen Momenten hilft es, wenn die Medizinische Fachangestellte einen kurzen Hinweis zur Verzögerung gibt („Ein Notfall ist dazwischengekommen, wir danken für Ihre Geduld“). Im Behandlungszimmer wirkt ein empathischer Satz wie ein kleines Trostpflaster: „Ich weiß, dass es heute länger dauert – jetzt bin ich ganz bei Ihnen.“ Denn selbst aufgebrachte Patienten suchen meist im Kern nicht die Eskalation, sondern Beziehung.
Emotionale Intelligenz
Das sogenannte Eisbergmodell der Kommunikation besagt: Nur etwa 20 Prozent der Kommunikation bestehen aus Worten, Fakten, Daten. 80 Prozent der Kommunikation liegen unter der Oberfläche: Emotionen, Vorerfahrungen, Werte und Erwartungen. Diese schwingen mit – mal mehr, mal weniger bewusst. Wer nur auf der Sachebene argumentiert („Wir haben eben viel zu tun“), verfehlt oft das, was wirklich bewegt: das Gefühl, nicht gesehen, nicht respektiert zu werden. Wer hingegen anerkennt, dass unter der Wut oft Ohnmacht oder Enttäuschung liegt, macht einen Schritt zur Deeskalation.
Emotionale Intelligenz ist das Fundament einer guten Gesprächsführung. Gerade im ärztlichen Setting braucht es eine ausgeprägte Fähigkeit, sich selbst und die Vielzahl verschiedener Individuen achtsam wahrzunehmen und zu steuern. Der Psychologe Dr. Daniel Goleman beschreibt fünf zentrale Säulen:
Selbstwahrnehmung: eigene Gefühle erkennen und benennen
Selbstregulation: Impulse steuern, ohne sich zu verleugnen
Motivation: echtes Interesse an konstruktiven Beziehungen
Empathie: Emotionen des Gegenübers erfassen und verstehen
Soziale Kompetenz: klar, offen und respektvoll kommunizieren
Eine praxisnahe Methode entwickelte der Psychologe Dr. Marshall Rosenberg, der auch als Mediator international in Krisengebieten wirkte. Die von ihm entwickelte Gewaltfreie Kommunikation (GFK) zielt darauf, Bedürfnisse zu erkennen, statt Schuld zuzuweisen – in vier Schritten:
Beobachtung statt Bewertung: „Mir ist aufgefallen, dass …“
Gefühle benennen: „Ich fühle mich angespannt, weil das Gespräch gerade sehr laut geworden ist.“
Bedürfnisse formulieren: „Mir ist wichtig, dass wir ruhig und respektvoll sprechen können.“
Eine Bitte zu äußern, statt zu fordern: „Wären Sie bereit …?“
Der Kern liegt darin, nicht zu urteilen, sondern zu verstehen – selbst wenn das Gegenüber wütend oder anklagend auftritt. Hinter Angriffen liegt fast immer ein unerfülltes Bedürfnis. Wer das erkennt, kann deeskalieren, ohne sich selbst aufzugeben – sanft, aber klar in der Aussage.
SET-Kommunikation: Drei Schritte im Umgang mit emotional instabilen Patienten
Ein weiteres Modell stammt vom Psychiater Dr. Jerold Kreisman, der das sogenannte SET-Modell insbesondere für den Umgang mit Borderline-Patienten entwickelte. Es eignet sich jedoch in der Praxis für alle emotional instabilen, schnell und affektiv reagierenden Menschen.
SET steht für:
Support (Unterstützung): „Ich bin hier, um zu helfen.“ Das vermittelt Sicherheit und Stabilität und betont die positive Absicht.
Empathy (Empathie): „Ich verstehe, dass das belastend für Sie ist.“ So erkennen Sie Gefühle an, ohne diese zu bewerten oder zu relativieren.
Truth (Wahrheit): „Ich kann die Situation im Moment nicht ändern, aber wir finden eine Lösung.“ Mit dieser Aussage setzen Sie realistische Grenzen – ehrlich, klar und dennoch wohlwollend.
Diese Form der Kommunikation hilft besonders, wenn Patienten emotional „überschießen“, zum Beispiel weil sie sich zurückgewiesen oder überfordert fühlen. Der Dreischritt ermöglicht Nähe ohne Aufgabe der professionellen Rolle und schützt gleichzeitig vor Eskalation.
Strategien gegen Aggression und Gewalt von Patienten
Wer professionell deeskaliert, bleibt handlungsfähig und schützt sich selbst wie auch sein Gegenüber. Bewährte Gesprächsleitfäden unterstützen in emotional belasteten Situationen. Für gefährliche Fälle braucht es zusätzlich Strategien aus dem Sicherheitsbereich – und ein Team, das genau weiß, was zu tun ist, wenn der Ton rau wird oder Gewalt droht.
Konfliktträchtige Situationen gehören leider für viele Ärztinnen und Ärzte zum Alltag: Patienten, die lautstark und provokativ ein MRT fordern, obwohl medizinisch keine Indikation besteht. Menschen, die verunsichert oder gar panisch reagieren. Oder auch schlicht unfreundliche und misstrauische Gesprächspartner. Dann ist eine strukturierte Gesprächsführung hilfreich und entlastend. Zwei Modelle, die sich bewährt haben, sind das CALM-Modell und das NURSE-Modell. Beide bieten alltagstaugliche Strategien für schwierige Gespräche – ohne die eigene Haltung oder professionelle Abgrenzung aufzugeben.
CALM: Vier Phasen für heikle Situationen
Das CALM-Modell wurde 2011 von Dr. Arnd Schweickhardt und Dr. Klaus Fritzsche, Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, im „Kursbuch ärztliche Kommunikation“ vorgestellt. Es gliedert herausfordernde Gespräche in vier Phasen: Contact – Appoint – Look ahead – Make a decision.
Die erste Phase, Contact, bildet die Grundlage: Es geht darum, echten Kontakt herzustellen und dem Gegenüber zu signalisieren: Ich nehme Sie als Mensch wahr. Oft genügt dazu ein einfaches, ehrliches Benennen der Situation. Beispiel: Ein Patient ist verärgert, weil er lange warten musste. Eine mögliche Reaktion: „Ich sehe, dass Sie frustriert sind. Lassen Sie uns über Ihre Situation sprechen.“ Schon in diesem ersten Schritt zeigt sich häufig, wie deeskalierend echte Zugewandtheit wirken kann.
In der zweiten Phase, Appoint, geht es darum, die Emotionen des Gegenübers wahrzunehmen und zu benennen – ohne Bewertung – und zugleich eine medizinisch begründete Haltung einzunehmen. Bleiben wir beim Beispiel: Ein Patient fordert ein MRT, obwohl keine Indikation besteht. Er ist wütend, fühlt sich nicht ernst genommen und sagt: „Sie wollen doch nur wieder Geld sparen!“ Eine mögliche Reaktion: „Ich verstehe Ihre Sorge. Ich erkläre gerne, warum ein MRT in diesem Fall nicht notwendig ist.“ Diese Verbindung von Empathie und fachlicher Klarheit kann die Beziehung stabilisieren – selbst in angespannten Situationen.
Die dritte Phase, Look ahead, richtet den Blick nach vorn. Gemeinsam wird nun überlegt, wie es weitergehen kann – inklusive einer Klärung der Rollen. Eine klare ärztliche Haltung wirkt dabei oft entlastend: „Meine Aufgabe ist es, Sie medizinisch bestmöglich zu beraten. Ein MRT würde Ihre Behandlung nicht voranbringen. Ich empfehle stattdessen Physiotherapie und gezielte Übungen.“
Die vierte Phase, Make a decision, mündet in einer Entscheidung, idealerweise im Sinne einer partizipativen Entscheidungsfindung. Hat der Patient etwa Sorge, dass etwas übersehen wurde, kann ein klares, zugleich beruhigendes Angebot helfen: „Mir ist es wichtig, dass wir gezielt und ursächlich vorgehen. Die Physiotherapie setzt direkt an der Ursache Ihrer Beschwerden an. Sollten die Schmerzen in vier Wochen noch bestehen, besprechen wir gemeinsam das weitere Vorgehen.“ Der rote Faden des CALM-Modells bleibt dabei stets spürbar: Auch bei klarer Abgrenzung ist die Haltung durchgehend kooperativ und wertschätzend. Die implizite Botschaft lautet: Ich bin auf Ihrer Seite. Wir handeln gemeinsam.
NURSE: Emotionale Kompetenz systematisch einsetzen
Neben dem strukturierten Ansatz des CALM-Modells bietet das NURSE-Modell eine fein differenzierte Möglichkeit, emotionale Signale wahrzunehmen und angemessen zu reagieren.
Der Begriff steht für fünf kommunikative Bausteine:
Naming,
Understanding,
Respecting,
Supporting und
Exploring.
Besonders hilfreich ist dieses Modell im Umgang mit sehr ängstlichen oder stark verunsicherten Patientinnen und Patienten. Ein Beispiel: Eine Patientin benötigt eine Tetanus-Impfung, wirkt jedoch deutlich angespannt.
Im ersten Schritt, „Naming“, wird das Gefühl behutsam benannt: „Ich sehe, dass Sie etwas angespannt sind.“ Die Patientin antwortet, sie habe Angst vor Spritzen und möglichen Nebenwirkungen.
Im zweiten Schritt, „Understanding“, geht es darum, empathisch Verständnis zu zeigen: „Das ist nachvollziehbar. Viele Menschen haben Respekt vor Spritzen. Es ist verständlich, dass Sie sich Gedanken über mögliche Reaktionen machen.“
Darauf folgt der Schritt „Respecting“: „Es ist gut, dass Sie sich informieren und sich bewusst mit dem Thema auseinandersetzen.“ Dieses respektvolle Anerkennen der Patientin als mitdenkendes Gegenüber stärkt die Beziehung und mildert das Gefühl von Ohnmacht.
„Supporting“ bedeutet dann, konkrete Unterstützung anzubieten, zum Beispiel: „Die Impfung ist sehr sicher. Häufig treten nur Müdigkeit und ein schwerer Arm auf, das verschwindet nach wenigen Tagen. Wenn Sie möchten, bleiben Sie nach der Impfung gerne noch eine halbe Stunde hier, bei Fragen sind wir jederzeit für Sie da.“
Im letzten Schritt, „Exploring“, können spezifischere Ängste exploriert werden: „Haben Sie eine spezielle Sorge zu einem bestimmten Inhaltsstoff? Ich erkläre Ihnen gerne mehr dazu.“ Oder auch je nach Aussagen oder Wahrnehmung: „Fühlen Sie sich verletzlicher als andere?“ Auf diese Weise entsteht ein echter Dialog, der über die bloße Aufklärung hinausgeht und zum Kern der Ursachen vordringen kann – mit nachhaltigem Gewinn für die Patientin.
Beide Modelle – CALM und NURSE – bieten praktikable Werkzeuge, um auch in schwierigen Situationen empathisch und professionell zu bleiben. Entscheidend ist dabei nicht nur die Technik, sondern auch die Haltung: Zuhören, verstehen, klar bleiben und immer wieder Brücken bauen. Was schwierige Patienten oft am meisten brauchen, ist spürbare menschliche Präsenz.
Wenn Patienten eskalieren: Souverän in hochkritischen Situationen
Im ärztlichen Alltag gibt es immer wieder Patienten, mit denen Gespräche zur Herausforderung werden. Doch was, wenn diese Herausforderung Grenzen überschreitet – etwa durch Drohungen, aggressive Sprache oder sogar körperliche Gewalt? In solchen Fällen bieten Erkenntnisse aus dem professionellen Deeskalationsmanagement sowie das Aachener Modell (s. unten) zur Gefährdungseinschätzung wertvolle Orientierung.
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Lernen von Sicherheitsdiensten: Profis der Deeskalation
Viele Prinzipien der verbalen Deeskalation aus der Kommunikationswissenschaft decken sich mit denen der Sicherheitsbranche. Auch dort gilt: Eskalationen sollen möglichst vor dem „Kipppunkt“ erkannt und entschärft werden. Entscheidend ist auch hier die gezielte Kombination aus Körpersprache, Sprache, Mimik und aktivem Zuhören mit Rückfragen.
Eine sorgfältige Gefährdungsbeurteilung hilft, Risikosituationen frühzeitig zu erkennen und Abhilfe zu schaffen – besonders in Bereichen, wo viele Menschen unter Stress und Zeitdruck auf engem Raum zusammentreffen, etwa im Eingangsbereich oder Wartezimmer. Beengung und unklare Wartezeiten sind ein riskantes Duo. Räumliche und organisatorische Entzerrung schafft hier spürbare Entlastung – besonders für emotional angespannte oder instabile Personen. Bevor ein Patient gewalttätig wird, gibt es zudem meist Vorzeichen: psychomotorische Unruhe, ein angespannter Körper, verkrampfte Hände, Schweißausbrüche oder ein besonders starrer Blick. Akute Warnsignale, wie ein verengter Blick bei gleichzeitig erhobenen Händen und einer schrillen Stimme, sind ernst zu nehmen. Jetzt ist Besonnenheit gefragt. Viele Menschen reagieren intuitiv mit Abwehr oder spiegeln das Verhalten – doch genau das befeuert die Eskalation. Stattdessen sollten Sie die instinktive Verteidigung bewusst übersteuern: durch eine ruhige Körpersprache, eine bewusst tiefe Stimme und eine klare, nicht provozierende Sprache.
Vorbeugen durch Umfeldgestaltung und Schulungen
Der Praxisbereich sollte sicher gestaltet sein. Das heißt: Auf dem Tresen haben schwere oder zerbrechliche Gegenstände keinen Platz, Scheren und Brieföffner gehören in verschlossene Schubladen. Auch persönliche Accessoires wie Ohrringe, Halstücher oder lange Ketten können im Eskalationsfall zur Gefahr werden.
Alle Mitarbeitenden sollten regelmäßig darin geschult werden, Gefahrensignale frühzeitig zu erkennen und im Ernstfall angemessen zu reagieren. Entscheidend sind dabei Selbstkontrolle und Körpersprache: Eine aufrechte Haltung, ein ruhiger Blick – notfalls auf die Nasenwurzel des Gegenübers gerichtet –, offene Gestik und ein gelassener Tonfall vermitteln Standfestigkeit ohne Bedrohung.
Umgang mit Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstruktur
Nach Angaben des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) erfüllen etwa drei von hundert Männern und eine von hundert Frauen die Kriterien einer antisozialen Persönlichkeitsstörung (ASP). Betroffene zeigen oft geringe Frustrationstoleranz und neigen zu impulsiven Gewaltausbrüchen – meist ohne jedes Schuldbewusstsein. Wer hier auf Machtspiele eingeht, begibt sich auf gefährliches Terrain. Ratsam ist eine ruhige, gelassene und zugleich klare Haltung.
Ein bewährter Kniff: Ein schlichtes „Danke“ – es bietet keine Angriffsfläche. Ebenso wirksam ist es, das Skript des Aggressors zu durchbrechen. Unerwartete Reaktionen – ein kurzes Lächeln, das Fragen nach der Uhrzeit oder eine völlig sinnfreie, verwirrende Rückfrage – können die Eskalationsspirale wirkungsvoll unterbrechen: „Waren Sie schon mal in Island? Ich frage, weil mich Ihre Stimme an einen Bekannten von dort erinnert.“
Wahrscheinlichkeit von Gewalt einschätzen: die Brøset-Checkliste
Die aus der stationären Psychiatrie stammende Brøset Violence Checklist (BVC) unterstützt dabei, akute Gewaltbereitschaft früh zu erkennen. Auch wenn sie im ambulanten Bereich nicht vollständig übertragbar ist – da sie eine mehrtägige Beobachtung voraussetzt –, schärft sie doch den Blick für zentrale Warnzeichen, nämlich Verwirrtheit, Reizbarkeit, impulsives Aufbrausen, Drohungen und Sachbeschädigung. Je mehr dieser Anzeichen auftreten, desto höher ist das Eskalationsrisiko. Vorbereitung ist hier entscheidend: durch klare Abläufe, sichere Rückzugsräume und ein geschultes, handlungssicheres Team.
Das Praxisteam auf den Ernstfall vorbereiten
Ein sicheres, klares Auftreten ist im Umgang mit potenziell gefährlichen Patienten entscheidend. Wichtig ist, möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten – weder durch übertriebene Härte noch durch übermäßige Nachgiebigkeit. Selbstsicherheit zeigt sich in innerer Ruhe, nicht im Ringen um Dominanz. Wertschätzende Grenzsetzung („Bitte keine Beschimpfungen“) und kooperative Angebote („Lassen Sie uns gemeinsam eine Lösung finden“) führen viele Gespräche schon zurück auf die Sachebene – leider nicht alle.
Deshalb sollte das Praxisteam auch auf den Extremfall vorbereitet sein: Fluchtwege müssen bekannt und zugänglich sein, Codewörter oder -phrasen für kritische Situationen etabliert („Ist Raum 7 frei?“ oder „Könnten Sie mir bitte die rote Mappe bringen?“). Mit regelmäßigen Rollenspielen in Teamsitzungen werden hilfreiche Kommunikationsmodelle trainiert.
Plan erstellen: Wie gehen wir mit aggressiven Patienten um?
Ein Leitfaden hilft, handlungsfähig zu bleiben.
Vorbeugen: Möglichst sichere Situation und Umfeld schaffen. Fluchtwege kennen, während der Eskalation Tür oder Flur im Rücken behalten, nicht in Ecke drängen lassen. Vorsicht: Ohrringe, Halstücher und Ketten können zur Gefahr werden.
Situation eingrenzen: Eskalierende Person von anderen Patienten entfernen, um Verunsicherung oder Gruppendynamiken zu verhindern. Die Person im Blick behalten, dabei möglichst zwei Meter Abstand halten.
Selbstregulation: Möglichst in der eigenen Mitte bleiben. Die eigene Körpersprache, Mimik und Gestik bewusst zur Deeskalation einsetzen. Hektische Bewegungen vermeiden. Arme vor dem Körper halten, um im Falle eines Angriffs diesen schnell abwehren zu können.
Innerer Regenmantel: Verzicht auf Machtkampf, stattdessen Wertschätzung vermitteln. Provokationen (Retourkutschen), Belehrungen, Drohungen vermeiden, aber auch andauernde Appelle, die Unterlegenheit suggerieren können („Nun beruhigen Sie sich doch endlich“).
Angebot: Gefühle und Bedürfnisse des Patienten identifizieren und — wenn möglich — ein Angebot machen: „Vielleicht tut es gut, kurz durchzuatmen. Hier oder draußen, ganz wie Sie möchten. Ich bleibe in der Nähe und wir sprechen dann in Ruhe weiter.“
A&W CME-Service – jetzt CME-Punkte sammeln
Die Fortbildung „Umgang mit schwierigen Patienten“ ist mit zwei CME-Punkten zertifiziert. Um die CME-Punkte zu erhalten, müssen Sie noch den entsprechenden Wissenstest auf der Online-Fortbildungsplattform MedLearning absolvieren: https://cme.medlearning.de/aw/schwierige_patienten/index.htm