Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Praxisführung

Es ist ein Phänomen, das sich weltweit abzeichnet: Denn nicht nur in Deutschland, auch in anderen Teilen der Erde nimmt die Aggression gegen Ärztinnen und Ärzte zu. Seit Jahren schon hält dieser Trend an, verschärft wurde er noch durch die Pandemie.

Auch wenn die Datenlage zur Problematik insgesamt dürftig ist, da es nur wenige Studien darüber gibt, welchen Aggressionen und welcher Gewalt Ärzte ausgesetzt sind, werfen die vorhandenen Untersuchungen ein klares Schlaglicht auf die Situation. So zeigte die bundesweite Befragungsstudie „Aggression und Gewalt gegen Allgemeinmediziner und praktische Ärzte“ von Doktorand Maximilian Georg Feistle an der TU München schon vor ein paar Jahren auf, dass quasi alle befragten Hausärzte (92 %) im Laufe ihrer ärztlichen Tätigkeit irgendwann schon einmal Aggression von Seiten der Patienten in irgendeiner Form erlebten. Leichtere Aggressionsformen wie Beleidigungen und Beschimpfungen bekamen 79 Prozent zu hören. Dabei traf es die Frauen mit 83 Prozent signifikant häufiger als ihre männlichen Kollegen.

81 Prozent Opfer von Aggression

Von Bedrohung, Einschüchterung, leichter körperlicher Gewalt, sexueller Belästigung, Sachbeschädigung, Diebstahl und Verleumdung auf Arztportalen im Internet konnten 81 Prozent der Umfrageteilnehmer berichten. Frauen waren hier mit 83 Prozent nur geringfügig häufiger betroffen als Männer mit 79 Prozent.

Einen Angriff mit einem Gegenstand oder einer Waffe, sexuellen Missbrauch und Stalking mussten 23 Prozent der befragten Allgemeinärzte im Laufe ihrer Karriere erleben. Von solch schwerwiegenden Aggressionen waren Frauen und Männer gleichermaßen betroffen.

Auf der Täterseite fiel auf: Männer traten bei leichten und schweren Gewaltformen zu je 81 Prozent als Aggressoren in Erscheinung, bei mittelschweren zu 79 Prozent. Die Täter waren bei leichten Vorfällen signifikant älter als bei schweren. Grundsätzlich ließ sich beobachten, dass es sich bei den Tätern hauptsächlich um Patienten handelte (73 %) und die aggressiven Vorfälle sich meist in der Arztpraxis abspielten. Auf Platz zwei der gefährlichsten Orte für Hausärzte kristallisierten sich Hausbesuche im Bereitschaftsdienst heraus. Am seltensten kam es bei Heimbesuchen zu unliebsamen Zwischenfällen mit Patienten.

Polizei bestätigt zunehmende Gewalt

Arzt unter Polizeischutz
Ein Hausarzt aus dem Kreis Osnabrück wollte eine Corona-Impfgegnerin nicht mehr in seiner Praxis betreuen. Anfang August bat er sie, sich einen anderen Hausarzt zu suchen. Danach eskalierte die Situation. Die Praxis erhielt im Stundentakt Hassnachrichten per Mail und Telefon von unterschiedlichen Personen. Der Arzt steht mittlerweile unter Polizeischutz.

Auch ein Blick in aktuelle Polizeistatistiken bestätigt die zunehmende Aggression gegen Ärztinnen und Ärzten. Nach Polizeiangaben stieg die Gewalt gegen medizinisches Personal in den letzten fünf Jahren. Demnach ereigneten sich zum Beispiel 2016 in Hannover 32 Fälle, in denen medizinisches Personal Opfer von Gewalt wurde. 2017 seien es bereits 44, ein Jahr später 53 und 2019 dann 62 Fälle gewesen. Im Pandemiejahr 2020 sei die Zahl wieder auf 41 gesunken. Auch im laufenden Jahr sei die Tendenz ähnlich. Die rückläufigen Zahlen würden sich aber darauf zurückführen lassen, dass aus Angst vor einer Infektion mit SARS-CoV-2 weniger Menschen beim Arzt gewesen sind.

Zu einem ähnlich brisanten Ergebnis kommt eine Studie aus dem Februar 2020. Daran nahmen rund 1.500 augenärztliche Kolleginnen und Kollegen teil. Insgesamt 83,3 Prozent erfuhren Aggressionen und Gewalt während ihrer Tätigkeit. 65 Prozent der Befragten erlebten verbale Übergriffe ohne Drohung. Von bedrohlich körperlichen Gewalterfahrungen berichteten 24,1 Prozent und zwei Prozent erhielten aufgrund schwerer körperlicher Gewalt eine ärztliche Behandlung. Sexuelle Einschüchterung/Belästigung bejahten 21,4 Prozent der Befragten. Von diesen waren die meisten weiblich (75,5 %). Knapp die Hälfte der Ärzte (47,9 %) empfand, dass aggressive und gewalttätige Verhaltensweisen in den letzten fünf Jahren zugenommen haben.

Pandemie verstärkt aggressives Patientenverhalten

Vor allem die Extremsituation der Pandemie lässt die Nerven bei einigen Patienten blank liegen. Ob in Schottland, den USA, in Indien oder im Irak: Aktuelle Studien zeigten auch dort eine besorgniserregende Zunahme an aggressivem Verhalten gegenüber medizinischem Personal.

Aber was können Ärzte tun, wenn sich Patienten im Ton vergreifen oder gar gewalttätig werden? Selbstverständlich ist jede Tatsituation unterschiedlich, sodass es keine Faustformel für alle Eventualitäten gibt. Doch grundsätzlich können folgende Verhaltensweisen helfen, brenzlige Konfliktsituationen zu deeskalieren:

  • Versuchen Sie ruhig zu bleiben und keine Gefühle zu zeigen. Bewahren Sie die Kontrolle und lassen Sie sich nicht von der Aggressivität Ihres Gegenübers anstecken.
  • Eine herablassende Art, Arroganz oder Drohungen können das aggressive Verhalten anderer noch weiter anfeuern.
  • Wichtig ist auch Ihre Körpersprache. Halten Sie sich aufrecht und selbstbewusst und wenden Sie einem aggressiven Patienten besser nicht den Rücken zu. Behalten Sie ihn im Auge und versuchen Sie einzuschätzen, wie zurechnungsfähig er ist.
  • Vermeiden Sie Körperkontakt und achten Sie auf eine ausreichende Distanz zwischen sich und der anderen Person.
  • Wahren Sie den Überblick und orten Sie Ihre Position im Raum. Können Sie ihn problemlos verlassen?
  • Wenn es möglich ist, holen Sie Mitarbeiter zur Unterstützung hinzu.
  • Scheuen Sie sich nicht, in Extremsituationen auch die Polizei zur Hilfe zu rufen, um sich, das Praxisteam und die Patienten zu schützen.

Umfrage des Monats: Gibt es mehr aggressive Patienten?

ARZT & WIRTSCHAFT hat Praxisinhaber nach ihren Erfahrungen mit aggressiven Patienten befragt. Hier einige Auszüge:

„Verbale Gewalt führte zu großer Belastung des Personals“

Die Menschen sind durch die Pandemie verunsichert. Gerade beim Thema Testung und Impfung sind viele sehr ungeduldig und fordernd. Körperliche Gewalt erlebten wir in unserer Praxis bisher nicht. Aber verbale Gewalt, die auch zu großer Belastung des Personals geführt hat, hatten wir täglich – vor allem zu Anfang der COVID-19-Impfungen.
Dr. med. Thomas Kohler, Hausarzt aus Achern

„Wir mussten sogar schon einmal die Polizei rufen“

Aggressivität und Distanzlosigkeit haben enorm zugenommen. Bei uns gab es sogar Gewalt gegen das medizinische Personal, sodass wir die Polizei rufen mussten. Grundsätzlich gibt es vor allem mehr verbale Angriffe, es wird ins Gesicht gebrüllt, aber auch in den Arm geboxt. Durch die Plexiglasscheiben wurde es zwar etwas besser, aber am schlimmsten war es in der ersten Zeit, als Impftermine vergeben wurden. Der größte Anteil der Patienten ist aber freundlich und friedlich.
Dr. med. Georg Tacke, Hausarzt aus Molfsee

„Viele Patienten denken, dass Ärzte sie bedienen müssen“

Die Patienten werden unverschämter und fordernder, da die medizinische Betreuung immer mehr als Dienstleistung angesehen wird anstatt als Arztberuf. Der Patient denkt, der Arzt muss ihn bedienen, wenn die Kasse bezahlt. Das ist auch politisch gewollt. Mit der früheren Praxisgebühr von zehn Euro war das Patientenverhalten respektvoller im Gegensatz zur heutigen Verramschung. Im Nachhinein gesehen war die Praxisgebühr diesbezüglich Gold wert.
Dr. med. Sebastian Queck, Hausarzt aus Blaubeuren