Kindeswohlgefährdung: „Vernachlässigung zu erkennen ist wie ein Puzzle“
Deborah WeinbuchFehlende Fürsorge hinterlässt Spuren – manchmal sichtbar, oft aber auch nicht direkt. Kinderschutzmedizinerin Dr. Sabine Keiser erklärt, wie sich einzelne Beobachtungen zu einem Gesamtbild fügen und wie Ärzte und Ärztinnen dann richtig handeln.
Vernachlässigung ist oft weniger greifbar als eine Misshandlung, die Spuren wie blaue Flecken oder Verbrennungen hinterlässt. Dennoch kann auch sie schwere Schäden nach sich ziehen und bisweilen sogar tödlich enden. Die Kinderschutzmedizinerin Dr. Sabine Keiser sieht in der Klinik täglich Kinder mit Hinweisen auf Vernachlässigung. Im Gespräch mit ARZT & WIRTSCHAFT schildert sie typische Warnzeichen, Umstände und geeignete Vorgehensweisen bei Verdachtsfällen.
Dr. Sabine Keiserist Fachärztin für Kinder- & Jugendmedizin, Chefärztin an den Städtischen Kliniken Mönchengladbach, Kinderschutzmedizinerin, Neonatologin, Ernährungsmedizinerin, Diabetologin (DDG) und Adipositastrainerin.
Frau Dr. Keiser, welche Rolle spielt Kindesvernachlässigung bei Ihrer Arbeit als Chefärztin?
In der Klinik erleben wir diesbezüglich zwei Gruppen von Kindern. Die kleinere kommt mit einer gezielten Fragestellung vom Jugendamt oder Kinderarzt zu uns, etwa zur Abklärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung. Häufiger sind es Fälle, in denen wir während einer Behandlung, etwa bei einer Bronchitis oder Übergewicht, selbst Anhaltspunkte erkennen.
Was fällt Ihnen dabei auf?
Ein Beispiel: Ein Kind kommt mit einem Atemwegsinfekt, riecht aber stark nach Rauch, so als würde im Haushalt rücksichtslos geraucht. Es hat einen stark kariösen Zahnstatus oder trägt mitten im Winter nur ein T-Shirt. Da fügt sich ein Bild zusammen. Vernachlässigung zeigt sich meist nicht durch ein einzelnes Symptom. Es ist wie ein Puzzle: Man sammelt Beobachtungen, befragt die Eltern und das Kind und zieht oft auch das Vorsorgeheft oder die Einschätzung des Kinderarztes hinzu. Kinderschutz ist immer Teamarbeit.
Und diese Kinder werden nicht selten mehrfach vorgestellt?
Genau. Eine Häufung von Vorfällen gibt ebenfalls Hinweise. Einmal ist es ein Sturz, weil ein Treppengitter gefehlt hat, dann eine Zigarette, die verschluckt wurde.
Die Eltern handeln vermutlich nicht immer in böser Absicht.
Richtig – viele sind überfordert, sei es durch schwierige Lebensumstände, mangelnde Ressourcen oder auch eigene psychische oder Suchterkrankungen. Unser erster Schritt ist daher Beratung, nicht Vorwurf. Manchmal reicht der Hinweis, dass die Limonade nicht ins Nuckelfläschchen gehört. Wenn aber Eltern trotz Aufklärung wiederholt Empfehlungen ignorieren, muss genauer geschaut werden: Liegt Einsichtsfähigkeit vor? Ist Veränderung möglich und unter welchen Umständen?
Gibt es typische Risikokonstellationen?
Meist greifen mehrere Faktoren ineinander – wie in einem Dreieck: Eine Seite bilden elterliche Belastungen wie fehlende Ressourcen, mangelndes Wissen oder eigene Erkrankungen. Auf der zweiten Seite stehen kindbezogene Faktoren – so kann ein Schreibaby oder ein Frühgeborenes, das viel Zuwendung braucht, manche Eltern überfordern. Die dritte Seite sind Kontextfaktoren wie Armut, Sprachbarrieren oder soziale Isolation – sie erschweren den Zugang zu Hilfen.
Aber ein Problem einzelner Milieus ist es nicht?
Kindeswohlgefährdung betrifft alle sozialen Schichten – auch in wohlhabenden Familien kann es Vernachlässigung geben. Doch wo sich Belastungen auf mehreren Ebenen bündeln, steigt das Risiko.
Welche Fälle frustrieren Sie besonders?
Aktuell betreue ich ein zweijähriges Kind mit rund zehn Kilo Übergewicht – alarmierend in diesem Alter. Die Mutter signalisierte zunächst, etwas ändern zu wollen, sagte dann aber zwei Termine in Folge ab. Daraufhin habe ich sie angerufen und betont, wie wichtig ein weiteres Treffen ist. Wir beraten Familien in angespannten Lagen intensiv – medizinisch, psychologisch und ernährungsbezogen – und schließen selbstverständlich zunächst körperliche Ursachen wie hormonelle Störungen aus. Aber wenn sich trotz aller Unterstützung nichts bewegt, müssen wir gegebenenfalls das Jugendamt als weiteren Helfer etablieren.
Wie reagieren die Jugendämter?
Mit Verantwortungsbewusstsein – aber aufgrund der personellen Situation unter schwierigen Bedingungen. Ein übergewichtiges Kind ist nicht akut lebensbedroht, trägt aber ein hohes Langzeitrisiko. Solche Fälle treten oft hinter akuten Notlagen wie Untergewicht oder Misshandlung zurück. Dabei wäre gerade Prävention entscheidend.
Was droht bei starkem Übergewicht?
Im frühen Alter kann es verhindern, dass die Kinder laufen, spielen und ihre Umwelt entdecken – zentrale Entwicklungsschritte bleiben aus. Wer sich nicht auf ein Bobbycar setzen oder selbstständig stehen kann, hinkt motorisch und kognitiv hinterher. Häufig fehlt es zusätzlich an Ansprache und Anregung, etwa durch Vorlesen oder gemeinsames Spielen. Stattdessen sitzen manche Kleinkinder stundenlang vor dem Tablet. Das wirkt sich auf Motorik, Sprache und Sozialverhalten aus. Wird in sensiblen Phasen nicht gegengesteuert, lässt sich das oft nicht mehr vollständig aufholen. Und auch bei späterer Gewichtsreduktion bleibt das Risiko für Bluthochdruck, Diabetes und andere Erkrankungen erhöht.
Wie wirken sich frühe Defizite langfristig aus?
Bei kleinen Kindern sehen wir oft sogenannte Regulationsstörungen – sie schreien viel, schlafen schlecht und sind schwer zu beruhigen. Später fällt auf, dass sie Schwierigkeiten im sozialen Kontakt haben oder im Spielverhalten nicht altersgerecht sind. Im Schulalter treten dann häufiger psychische Auffälligkeiten auf – manche Kinder ziehen sich völlig zurück, andere verhalten sich impulsiv oder stören den Unterricht. Neben chronischen Krankheiten können auch psychosomatische Beschwerden auftreten. Die langfristige Belastung ist insgesamt oft größer als bei einmaliger körperlicher Gewalt wie einer Ohrfeige.
Warum ist die Belastung hier besonders groß?
Vernachlässigung ist meist kein einmaliges Ereignis, sondern ein chronischer Zustand – oft über Jahre und von außen kaum wahrgenommen. Besonders belastend ist die ständige Ungewissheit: Viele Kinder wissen nie, ob sich jemand kümmert oder Versprechen eingehalten werden. Kommen emotionale oder körperliche Gewalt oder sexueller Missbrauch hinzu, steigt das Risiko für schwere psychische Erkrankungen wie etwa eine posttraumatische Belastungsstörung deutlich.
Wie oft treten Formen der Kindeswohlgefährdung auf?
Rund 45 Prozent der gemeldeten Fälle betreffen laut Statistischem Bundesamt Vernachlässigung, 16 Prozent psychische und 15 Prozent körperliche Misshandlung. In jedem fünften Fall treten mehrere Formen gleichzeitig auf. Im Klinikalltag sehe ich täglich bei rund 25 stationären Aufnahmen zwei bis drei Kinder mit Hinweisen auf Vernachlässigung.
Welche strukturellen Probleme sehen Sie im Kinderschutz?
Zeitdruck ist ein zentrales Problem. Kinderärzte betreuen täglich bis zu 130 Kinder. Gerade in Infektwellen bleibt wenig Raum, auf subtile Hinweise wie unpassende Kleidung einzugehen. Hinzu kommt die Sorge, das Vertrauensverhältnis zu den Eltern zu gefährden – das kann offene Gespräche über mögliche Probleme erschweren.
Was müsste sich ändern, um den Kinderschutz zu verbessern?
Es braucht mehr Ressourcen für Jugendämter, aber auch gesellschaftliche Maßnahmen: eine Zuckersteuer, Werbebeschränkungen für Kinderlebensmittel, mehr Aufklärung zur Mediennutzung, Bewegungsförderung, mehr Schwimmkurse sowie personell gut ausgestattete Kindertagesstätten und einen einfachen Zugang zu frühkindlicher Betreuung. Eine Mutter scheiterte daran, ihr Kind anzumelden, weil dies nur noch online möglich war und sie damit nicht zurechtkam. Der Kinderschutz sollte nicht erst am Ende der Kette ansetzen, sondern viel früher – durch Prävention und bessere Unterstützung der Familien. Wenn wir aktiv werden müssen, gab es schon viele verpasste Chancen.
Haben Sie Empfehlungen zur Fortbildung?
Ja, zum Beispiel die modulare Weiterbildung der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) – mit Inhalten zu medizinischen, rechtlichen und kommunikativen Aspekten. Die S3-Leitlinie „Kinderschutz in der Medizin“ bietet zudem praxisnahe Empfehlungen für alle Berufsgruppen – von der Dokumentation bis zur interprofessionellen Zusammenarbeit.
Sehen Sie auch Fortschritte im Kinderschutz?
Ja, vor 25 Jahren war das Thema in der medizinischen Ausbildung kaum präsent – es fehlten Literatur, Fortbildungen und Austausch. Heute ist Kinderschutz deutlich sichtbarer, mit Leitlinien, Fachartikeln und Weiterbildungsangeboten. Dieses gestiegene Bewusstsein ist wichtig, denn auch wenn frühe Vernachlässigung Spuren hinterlässt, können gezielte Interventionen die Entwicklung fördern. Selbst kleine Veränderungen im Alltag, verlässliche Bezugspersonen oder Unterstützung machen einen Unterschied – es ist nie zu spät, etwas zu verbessern.
Unterstützung für Pädiater
Die Medizinische Kinderschutzhotline für Fachkräfte im Gesundheitswesen berät bei Verdachtsfällen, praktisch und rechtlich. Sie ist kostenlos und rund um die Uhr erreichbar: Tel.: 0800 19 210 00
Richtig handeln
Bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung ist ein strukturiertes, rechtlich abgesichertes Vorgehen empfohlen:
Erkennen und dokumentieren: Sorgfältige Anamnese, körperliche Untersuchung sowie schriftliche und gegebenenfalls fotografische Dokumentation.
Gespräch mit der Familie: Mit Eltern und/oder Kind sprechen, Hilfen ansprechen, gemeinsame Lösungen suchen.
Interkollegialer Austausch: Seit 2023 erlaubt § 4 Abs. 3a KKG (Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz) den vertraulichen Austausch mit anderen Berufsgeheimnisträgern wie weiteren Ärztinnen und Ärzten zur fachlichen Einschätzung – ohne Verletzung der Schweigepflicht.
Meldung an das Jugendamt (§ 4 KKG): Liegen gewichtige Anhaltspunkte für eine nicht anders abwendbare Kindeswohlgefährdung vor, haben Ärztinnen und Ärzte das Recht und die Pflicht, das Jugendamt zu informieren. Die Eltern beziehungsweise Sorgeberechtigten sollten möglichst vorab informiert werden – es sei denn, dies würde das Kind gefährden.
Sofortmaßnahmen: Bei akuter Gefahr sind Ärztinnen und Ärzte dazu verpflichtet, das Kind zu schützen: durch medizinische Maßnahmen und gegebenenfalls stationäre Einweisung. Wenn Sorgeberechtigte nicht kooperieren oder Gefahr von ihnen ausgeht, wird die Polizei oder der kommunale Kinder- und Jugendnotdienst eingeschaltet.
Rückmeldung: Nach einer Meldung sollte das Jugendamt rückmelden, welche Maßnahmen es ergriffen hat. Aus Schutzgründen kann dies im Einzelfall aber unterbleiben.