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Wenn die Familie beisammen ist, ist die Seele auf ihrem Platz – so lautet ein Sprichwort aus Russland. Eine Familie steht wie kaum ein anderes soziales Gebilde als Sinnbild für Liebe, Geborgenheit und Glück. Doch sie hat auch eine Kehrseite: 62 Prozent der Eltern mit minderjährigen Kindern fühlen sich häufig oder sogar sehr häufig gestresst – das ergab eine forsa-Umfrage im Auftrag der Kaufmännischen Krankenkasse KKH. Für zwei Drittel der Befragten hat der Stress in den vergangenen ein bis zwei Jahren darüber hinaus zugenommen, sodass sich fast 70 Prozent der befragten Eltern infolge hoher Belastungen mitunter erschöpft oder ausgebrannt fühlen.

Was Eltern besonders belastet

Zu den größten Stressfaktoren zählen die Kindererziehung und -betreuung (48 % der Befragten), die Arbeitsbelastung im Haushalt (46 %) und die Angst um die Zukunft des Nachwuchses (44 %). Ab wann Eltern in einem gefährlichen Maße gestresst sind, lässt sich pauschal nicht beantworten. „Das ist in jeder Familienkonstellation unterschiedlich“, sagt Dr. Filip Caby im Gespräch mit ARZT & WIRTSCHAFT. Dr. Caby ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Ruhestand und ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie.    

Gespräche als Teil der Stressbewältigung

 

Für den Mediziner kommt ein weiterer Faktor hinzu, der Stress innerhalb einer Familie hervorruft. „Stress entsteht, wenn Menschen nicht mehr miteinander im Gespräch sind. Der Alltag geht seinen gewohnten Gang, man findet Lösungen, um ihn zu bewältigen, aber tauscht sich nicht darüber aus. Und wenn die Gespräche ausbleiben und jeder seinen eigenen Weg geht, wird das irgendwann zu einem Teufelskreis.“ Hier könne die systemische Therapie als familientherapeutischer Ansatz Abhilfe schaffen, indem Eltern anhand einer Zeitlinie bestimmen, ab wann es mit der Kommunikation untereinander schwierig geworden ist, so Dr. Caby.

„Das ist für mich ein wichtiger Aspekt, die Gesprächsbereitschaft auf allen Ebenen zu etablieren. Es muss das Bedürfnis entstehen, Dinge miteinander zu besprechen und dann eine solche Gesprächskonstellation innerhalb der Familie zu bilden.“ Fünf bis zehn Minuten reichen dabei aus, um abends den Tag Revue passieren zu lassen und die positiven wie auch weniger positiven Erlebnisse zu besprechen, betont der Kinder- und Jugendpsychiater. Einmal als Routine in den Alltag eingebaut, können die Gesprächseinheiten auch der Psychohygiene dienen.

Zu hohe Erwartungshaltung kann auch Stress verursachen

Wie eingangs erwähnt, sorgen sich laut der Umfrage viele Eltern auch um die Zukunft ihrer Kinder. Oft seien überhöhte Erwartungen ein zusätzlicher Stressor, analysiert Dr. Caby. „Wenn Eltern ihren Kindern ihre eigenen Ideen oder Erwartungen als das, was es zu erreichen gilt, vorleben, entsteht bei den Kindern sehr oft Druck, weil sie zu Ausführenden und nicht zu Gestaltenden erzogen werden. Kinder sind den Eltern gegenüber loyal und möchten die Wünsche der Eltern so gut es geht umsetzen. Sie bekommen schnell das Gefühl, es nicht gut genug zu machen. Das erzeugt wiederum Frust auf beiden Seiten.“

Eltern sollten es daher respektieren, dass Kinder ihren eigenen Weg gehen, und ihnen so Wertschätzung entgegenbringen. Die Herkunft des Elternhauses spielt für Dr. Caby dabei keine Rolle. „Da ist es egal, ob Arbeiter- oder Medizinerfamilie – die Kunst, das zuzulassen, ist für jede Familie gleich groß.“ Teil des Prozesses für Mütter und Väter ist es, die eigenen Erwartungen zu hinterfragen und mit den Vorstellungen ihrer Kinder abzugleichen.    

Ärztinnen und Ärzte tun sich damit aber erfahrungsgemäß schwerer. Dr. Caby führt das auf den beruflichen Hintergrund zurück. „Mediziner neigen dazu, zu verkopft zu sein, weil sie durch ihre Arbeit und Ausbildung einen Problemblick entwickeln und viel mit Krankheiten und Symptomen und deren Heilung zu tun haben. Im Medizinstudium wird ihnen außerdem beigebracht, für alles eine Lösung zu haben. Das ist im normalen Familienalltag leider nicht der Fall. Lösungen können hier nur gemeinsam im Familienverbund erarbeitet werden.“

Auch das veränderte Rollenverständnis innerhalb der Familie birgt Stresspotenzial. Die Ärzteschaft wird immer weiblicher, viele Ärztinnen möchten Familie und berufliche Karriere bestmöglich vereinbaren. „Je nachdem, mit welchen Erwartungen der Partner in diese Konstellation geht, kann das zu Reibungen führen“, so die Einschätzung von Dr. Caby. Die KKH-Umfrage möchte deshalb auch auf die Gefahr eines „Eltern-Burnouts“ aufmerksam machen.

Ähnlich wie ein Burnout im beruflichen Kontext sei dieser Erschöpfungszustand besonders ernst zu nehmen. „Die Elternrolle ist unkündbar“, betont Dr. Aileen Könitz, Expertin für psychiatrische Fragen bei der KKH. „Die Arbeit, die Eltern und insbesondere Alleinerziehende leisten, wird von der Gesellschaft immer noch unterschätzt. Damit verbundene Probleme wie Druck und Stress sind nach wie vor häufig ein Tabu.“

Für Eltern sei es daher entscheidend, dass sie offen über ihre Sorgen und Ängste reden können. Sind Anzeichen einer chronischen Erschöpfung erkennbar, sollten sich Eltern ein Netzwerk aufbauen, um sich gegenseitig zu helfen. Burnout-Prävention ist hier laut Könitz das Stichwort: „So können etwa Aufgaben wie Kochen oder Kinder zur Schule bringen und von der Schule abholen mit anderen Eltern, Nachbarn oder Großeltern geteilt werden.“ Und auch hier gehe es wieder darum, dass Mütter und Väter ihre eigenen Ansprüche hinterfragen und weniger Perfektionismus in ihrem Leben zulassen.    

Hintergrund: So läuft die systemische Therapie ab

Systemische Therapie ist einerseits an Beziehungsprozessen der Personen interessiert, die an der Entstehung und Aufrechterhaltung eines Problems beteiligt und daher auch für Veränderungs- und Lösungsprozesse von Bedeutung sind. Andererseits liegt der systemischen Therapie die Annahme zugrunde, dass der Schlüssel zum Verständnis und zur Veränderung von Problemen weniger in der behandelten Person allein liegt, sondern im familiären Kontext, in dem das Problem entstanden ist.

Systemische Therapien arbeiten oft mit lösungsorientierten Aufstellungen, in denen die Familie des betroffenen Patienten seinen Wünschen entsprechend aufgestellt wird. Die Beteiligten können von dieser neuen Position heraus gemeinsam mit dem Betroffenen neue Ideen entwickeln. Durch die systemischen Fragen- und Interventionstechniken sollen sich neue Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Die Therapieform ist seit 1. Juli 2020 Teil des Leistungskataloges in der Gesetzlichen Krankenversicherung.

Quellen: Dr. Filip Caby, Pro Psychotherapie e.V.

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