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Arbeitsrecht

Lange galt in Deutschland die eherne Regel: Wer seinen Urlaub nicht bis zum Ende des laufenden Jahres, spätestens aber bis zum Ende des ersten Quartals im Folgejahr genommen hat, der hat die unverbrauchten freien Tage ersatzlos verloren – und seinem Arbeitgeber bares Geld geschenkt.

In den vergangenen Jahren allerdings hat der Europäische Gerichtshof diverse Entscheidungen getroffen, die diesen automatischen Urlaubsverfall in Frage stellen – zum Beispiel bei dauerhaft kranken Arbeitnehmern. So entschieden die Luxemburger Richter – und im Anschluss daran auch das Bundesarbeitsgericht: Kann ein Arbeitnehmer seinen Urlaub wegen Krankheit nicht nehmen, verfällt dieser weder am Jahresende noch zum 31. März des Folgejahres, sondern erst nach 15 Monaten (EuGH, Az. C-214/10 und BAG, Az. 9 AZR 353/10). Stirbt ein Arbeitnehmer, der fürs laufende Jahr noch Urlaubsansprüche hatte, können nach der europäischen Rechtsprechung auch dessen Erben vom Arbeitgeber eine finanzielle Vergütung für die noch nicht genommenen Tage verlangen. (EuGH, Az.: C-569/16 und C-570/16).

Urlaub für die Ewigkeit?

Im Herbst des vergangenen Jahres nun hat der Europäische Gerichtshof auch noch entschieden, dass nicht genommener Urlaub nur dann verfällt, wenn der Arbeitgeber seine Arbeitnehmer zuvor darüber informierte, dass diese Gefahr besteht – und zudem eine Aufforderung ausgesprochen hat, noch offene Tage wirklich zu nehmen (EuGH C-120/21).

Dem hat sich, mit Urteil vom 20.12.2022  auch das Bundesarbeitsgericht angeschlossen. (Az.: 9 AZR 266/20) Es entschied:  Arbeitgeber – und damit auch Kliniken, Praxen und MVZ  – müssen ihre Arbeitnehmer Jahr für Jahr über die konkreten Urlaubsansprüche sowie deren Verfallfristen belehren. Tun sie das nicht, läuft die dreijährige Verjährungsfrist für nicht genutzte freie Tage nicht an – und der Urlaubsanspruch bleibt dauerhaft erhalten.

Im konkreten Fall hatte eine Steuerfachangestellte ihren früheren Arbeitgeber verklagt. Dieser hatte ihr nach ihrem Ausscheiden nur 14 Urlaubstage abgegolten. Die Frau, die mehr als 20 Jahre für die Kanzlei tätig war, hatte jedoch einen Urlaubsabgeltungsanspruch für insgesamt 101 Tage gefordert. Wegen der hohen Arbeitsbelastung habe sie ihren Urlaub vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht vollständig nehmen können. Zudem habe sie ihr Chef nicht darüber belehrt, dass nicht genommener Urlaub in solchen Fällen ersatzlos verfallen könne.

Das BAG gab der Arbeitnehmerin recht. Zwar unterliege Urlaubsansprüche von Beschäftigten grds. der gesetzlichen Verjährungsfrist von drei Jahren. Die beginne aber erst mit Abschluss des Jahres zu laufen, in dem der betreffende Arbeitnehmer aus freien Stücken seinen Urlaub nicht genommen habe, obwohl ihn sein Chef über seinen konkreten Anspruch und das Risiko des Verfalls aufgeklärt hat.

Diese Rechtsauffassung deckt sich mit der des EuGH und bürdet Kliniken und Praxen nun eine Hinweis- und Aufklärungspflicht über die Urlaubsansprüche jedes einzelnen Mitarbeiters auf.

Detaillierte Aufklärungsschreiben reduzieren Risiken von Kliniken und Praxen

Ärztliche Arbeitgeber sollten angesichts der neuen Rechtsprechung möglichst früh im Jahr detaillierte Informationsschreiben in Sachen Urlaub verfassen und deren Versand dokumentieren. Die Schreiben müssen zum einen darüber informieren, wie viele Urlaubstage angestellten Ärzten bzw. dem nicht ärztlichen Personal zustehen. Zudem sollten Kliniken und Praxen jeden Arbeitnehmer in dem an ihn adressierten Schreiben auffordern, den eigenen Urlaub so rechtzeitig zu beantragen, dass er ihn noch im laufenden Kalenderjahr abfeiern kann. Auch muss das Unterrichtungsschreiben eindeutig darauf hinweisen, dass der Urlaub grundsätzlich am Ende des Kalenderjahres verfällt, wenn der Arbeitnehmer in der Lage war, seinen Urlaub im laufenden Kalenderjahr zu nehmen, dies aber aus freien Stücken unterließ.

Wichtig: Eine abstrakte (nicht auf den Arbeitnehmer individualisierte) Information, etwa ein Merkblatt an die gesamte Belegschaft, genügt nicht, um die Anforderungen des BAG zu erfüllen.

Massive finanzielle Risiken

Eine fehlerhafte Belehrung (oder deren Unterlassen) birgt große finanzielle Risiken, da der Urlaubsanspruch in solchen Fällen (theoretisch bis in alle Ewigkeit) bestehen bleibt.

Wichtig ist zudem: Ohne vertragliche Sonderreglung gelten die neuen Vorgaben nicht nur für den gesetzlich vorgeschriebenen Mindesturlaub, sondern auch für Mehrurlaub, den der Arbeitgeber freiwillig gewährt. Vor diesem Hintergrund ist in Zukunft peinlich darauf zu achten, im Arbeitsvertrag zwischen dem gesetzlichen Mindesturlaub und dem vertraglichen Mehrurlaub (überobligatorischen Urlaub) zu differenzieren und letzteren mit Ablauf des Kalenderjahres verfallen zu lassen.