Vitamin-B12-Mangel: Arzt wegen Befundungsfehler verurteilt
Judith MeisterSelbst eine umfangreiche Differentialdiagnostik schützt Ärztinnen und Ärzte nicht in jedem Fall vor einer Haftung, wenn sie einen Vitamin-B12-Mangel übersehen. Das verdeutlicht ein aktuelles Urteil.
Auch wenn das Bewusstsein für gesunde Ernährung inzwischen weit verbreitet ist, gehört der Mangel an Vitamin B12 immer noch zu den häufigsten Mangelerscheinungen in Deutschland. Besonders gefährdet sind ältere Menschen, aber auch Veganer, da Vitamin B12 fast ausschließlich in tierischen Produkten vorkommt. Häufig leiden die Patienten mit diesem Mangel unter einer Anämie. Aber auch bei neurologischen, kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen sollten Allgemeinmediziner und -medizinerinnen stets an einen Vitamin-B12-Mangel denken. Dass sogar bei einer leichtgradigen Anämie die Bestimmung des Vitamin-B12-Status unbedingt erforderlich sein kann, hat das Oberlandesgericht (OLG) Dresden entschieden (30.05.2024, Az. 4 U 452/22).
Veganer Patient mit Symptomen
Im konkreten Fall ging es um die Klage eines 50-jährigen Mannes. Er hatte sich in einer Gemeinschaftspraxis für Allgemeinmedizin vorgestellt, weil bei ihm Gangbeschwerden aufgetreten waren. Der behandelnde Arzt veranlasste über mehrere Wochen hinweg verschiedene Untersuchungen und führte zahlreiche Gespräche mit dem Patienten. Die Dokumentation belegte, dass unter anderem Verdachtsdiagnosen im neurologischen Bereich wie etwa das Spätstadium einer Borreliose ausgeschlossen wurden. Auch klärte der Behandler eine psychisch-vegetative Dysregulation mit Überforderungssyndrom ab und führte eine Blutuntersuchung durch. Als die auf Basis der erhobenen Befunde durchgeführten Behandlungen keine Besserung brachten, wurde der Patient in einer Klinik aufgenommen. Dort diagnostizierten die Ärzte einen akuten Vitamin-B12-Mangel nebst perniziöser Anämie und leiteten eine Supplementation mit Vitamin B12 ein.
Der Patient verklagte die Gemeinschaftspraxis, da man es dort behandlungsfehlerhaft unterlassen hätte, einen Zusammenhang mit seiner veganen Ernährung und einem möglichen Vitamin-B12-Mangel herzustellen. Damit hatte er vor dem OLG Dresden Erfolg. Gestützt auf ein Sachverständigengutachten entschied der Senat, dass der Hausarzt laut seiner handschriftlichen Notizen zwar erkannt habe, dass der Patient an einer mäßiggradigen Anämie leide. Deren Ursache hätte er jedoch zwingend abklären müssen, auch wenn er keine Kenntnis von der veganen Lebensweise gehabt haben sollte.
Grober Befundungsfehler lag vor
In diesem Zusammenhang sei es in jedem Fall geboten gewesen, den Vitamin-B12-Status des Patienten zu bestimmen. Auch sei bei einer makrozytären Anämie an erster Stelle stets die Abklärung eines Vitamin-B12-, Folsäure- und Eisen-Mangels zu veranlassen. Dies sei hier schon deshalb geboten gewesen, weil der Patient bei den Arztbesuchen typische Beschwerden geschildert habe. Die Gemeinschaftspraxis haftete daher wegen eines schweren Befunderhebungsfehlers zu 70 Prozent für alle entstandenen und künftigen materiellen und immateriellen Schäden, darunter Schmerzensgeld, Schadensersatz für die Erwerbsminderung und Zahlung einer Grundrente. Dem Patienten wurde ein Mitverschulden von 30 Prozent angelastet, da er sich trotz Überweisung nicht bei einem Neurologen vorgestellt hatte.
Richtig Supplementieren
Frühzeitig entdeckt lassen sich Nervenschäden, die durch einen Vitamin-B12-Mangel entstanden sind, beheben oder zumindest lindern.
Die Einnahme von Vitaminpräparaten oder Nahrungsergänzungsmitteln zum Ausgleich sollte jedoch nur nach ärztlicher Diagnose erfolgen. Denn wer zu viel Vitamin B12 einnimmt, kann unerwünschte Nebenwirkungen haben oder eine unerwünschte Interaktion mit anderen Medikamenten auslösen.
Einige Studien sehen sogar Zusammenhänge zwischen einem zu hohen B12-Spiegel und einem erhöhten Risiko für bestimmte Krebsarten.