„Gewalt gegen Praxisteams ist längst kein Einzelfall mehr“
Marzena SickingImmer häufiger sehen sich niedergelassene Ärztinnen, Ärzte und ihre Teams mit verbalen oder körperlichen Übergriffen konfrontiert. Eine aktuelle Umfrage von MEDI Baden-Württemberg zeigt: Gewalt in Praxen ist keine Randerscheinung mehr, sondern belastender Alltag. Dr. Norbert Smetak, Vorsitzender von MEDI Baden-Württemberg, spricht im Interview über Ursachen, Konsequenzen – und was sich dringend ändern muss.
Herr Dr. Smetak, Ihre Umfrage zeigt: Gewalt gegen Praxisteams ist keine Ausnahme mehr. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Die Entwicklung in den Arztpraxen spiegelt den aktuellen gesellschaftlichen Trend wider. Wir beobachten alle eine zunehmende Respektlosigkeit und Verrohung in unserer Gesellschaft – in allen Bereichen. Die Ursachen sind vielschichtig und sehr komplex. Bei uns in den Arztpraxen kommt sicherlich hinzu, dass das Gesundheitssystem mittlerweile am Limit ist. Wir haben zu wenig niedergelassene Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und -therapeuten, zu wenig Personal bei gleichzeitig steigender Versorgung und höherem Verwaltungsaufwand. Uns wird viel abverlangt, aber auch den Patientinnen und Patienten. Durch längere Wartezeiten auf Termine, weniger Sprechstundenzeit und steigende Beitragssätze. Da ist der Geduldsfaden dann einfach per se schon mal wesentlich dünner.
Welche Formen von Gewalt treten besonders häufig auf – und gegen wen richten sie sich konkret in den Praxen?
Es beginnt bei Unfreundlichkeit, führt über Respektlosigkeit bis hin zu Beleidigungen oder Drohungen. Unsere Umfrage unter unseren Mitgliedern hat uns deutlich gezeigt, dass verbale Gewalt mittlerweile zum Alltag in der Praxis gehört. 67 Prozent der Befragten gaben an, dass sie Erfahrungen mit verbaler Gewalt gemacht haben. 16 Prozent haben sowohl verbale als auch körperliche Gewalt bereits in ihrer Praxis erlebt. Das ist erschreckend. Respektlosigkeit und Gewalt richten sich dabei an das ganze Praxisteam – an unsere MFA genauso wie an uns Ärztinnen und Ärzte.
Wie sehr belastet diese Situation aus Ihrer Sicht die psychische Gesundheit und die Arbeitsfähigkeit der Praxisteams?
Das ist sehr belastend und beängstigend. Auch das zeigt unsere Umfrage: Bei 39 Prozent unserer Befragten führte die Gewalterfahrung zu einer psychischen Belastung, elf Prozent mussten sogar ambulant behandelt werden. Bei acht Prozent der befragten Praxen führte das Ereignis zu einem dauerhaftem Schaden, bei sieben Prozent kam es sogar zum Arbeitsausfall der MFA, bei zwei Prozent zu einem Ausfall der Ärztin oder des Arztes.
Was sind die aus Ihrer Sicht die wichtigsten Ursachen für die zunehmende Gewaltbereitschaft? Welche gesellschaftlichen oder systemischen Faktoren spielen eine Rolle?
Ich bin kein Sozialforscher. Ich hatte ja eingangs gesagt, dass die Ursachen sehr vielschichtig und komplex sind.Ich kann das nur aus meinen Beobachtungen und Erfahrungen erklären. Es herrscht eine große Unzufriedenheit und Gereiztheit in der Gesellschaft – das erleben wir jeden Tag auf Social Media. Die Stimmung hat sich aus meiner Sicht – und da stimmen mir viele Kolleginnen und Kollegen sicher zu – durch die Pandemie verschärft. Wir wissen aus den Studien, dass psychisch Erkrankungen beispielsweise bei Kindern und Jugendlichen nach der Pandemie deutlich angestiegen sind. Und wir leben weiter in herausfordernden Zeiten mit großen globalen Krisen und vielen Unsicherheiten. Das spaltet, macht Angst und löst bei vielen Menschen Hilflosigkeit oder eben auch Aggressionen aus.
In der Umfrage wird auch eine wachsende Respektlosigkeit und eine „Flatrate-Mentalität“ genannt. Welche Verantwortung tragen Politik und Krankenkassen für dieses Klima?
Sie haben sicherlich auch mit dazu beigetragen. Einige Kassen und Kassenverbände unterstellen uns regelmäßig, wir Ärztinnen und Ärzten – gerne auch despektierlich als Leistungserbringer bezeichnet – würden nicht genug arbeiten. Das ist einfach falsch. Viele von uns haben eine 50- oder 60-Stunden-Woche. Immer mehr unserer Arbeitszeit müssen wir leider in Bürokratie investieren. Auch hier wünschen wir uns mehr Eigenverantwortung und Vertrauen. Dann können wir uns auch wieder mehr unseren Patientinnen und Patienten widmen. Wir wünschen uns von der Politik zudem eine Entbudgetierung für alle Fachrichtungen. Das ist doch absurd: Einerseits sollen wir noch mehr Patientinnen und Patienten behandeln, mehr Zeit für sprechende Medizin aufbringen, andererseits bekommen wir viele dieser Leistungen gar nicht vergütet. Dieses System gibt es in keiner Branche. Den Patientinnen und Patienten wird aber von den Kassen und der Politik gerne vermittelt, die Gesundheitskarte sei eine Art Flatrate. Da klaffen Anspruch und Realität auseinander und das sorgt natürlich für Frustration und bei einigen Patientinnen und Patienten auch für Zorn.
Sie fordern eine Erweiterung des besonderen strafrechtlichen Schutzes gemäß § 115 StGB. Was genau schlagen Sie vor und warum ist dieser Schritt aus Ihrer Sicht dringend notwendig?
Wie unsere Umfrage zeigt, sind wir Niedergelassenen auch von zunehmender Gewalt betroffen – nicht nur der Notfalldienst oder die Kliniken. Der besondere strafrechtliche Schutz gemäß § 115 StGB muss auch für medizinisches Personal außerhalb der Notfallversorgung in den Arztpraxen gelten. Aktuell sind wir aber ausgeschlossen. Das muss sich dringend ändern. Übrigens wünschen sich auch über 40 Prozent unserer Befragten neue Gesetze zum eigenen Schutz.
Wie schätzen Sie die politische Bereitschaft ein, diesen Schutz auszuweiten? Gibt es bereits Rückmeldungen oder Unterstützungszusagen?
Wir waren überrascht, welche mediale Welle unsere Umfrage und unsere Pressemitteilung bundesweit ausgelöst haben. Das Thema scheint einen Nerv getroffen zu haben.Auch der Bundesärztekammer-Präsident Klaus Reinhardt hat auf unsere Mahnung reagiert und erneut seine Forderung nach einem bundesweiten Meldesystem für gewalttätige Übergriffe auf Ärztinnen und Ärzte ausgesprochen. Parallel betonte auch Bundesgesundheitsministerin Nina Warken im Gespräch mit der FAZ, Gewalt im Gesundheitswesen entschlossen entgegenzuwirken. Sie nannte dabei auch die Arztpraxen. Gelingt es der Politik nicht, Praxen entsprechend zu schützen, ist eine zunehmende vorzeitige Schließung von Arztpraxen und damit eine weitere Verschlechterung der ambulanten medizinischen Versorgung zu befürchten. Wir werden uns weiter engagieren und sind zuversichtlich, dass wir bei dem Thema mit der neuen Regierung einen Schritt weiterkommen.
Welche präventiven Maßnahmen haben Praxen laut Umfrage bereits umgesetzt? Reichen bauliche Maßnahmen und Schulungen zur Deeskalation aus?
Fast 50 Prozent haben laut Umfrage bereits Kommunikationsseminare mit ihren Praxisteams besucht. Deeskalationsseminare halte ich für sehr wichtig. Das sollten alle Praxen mit ihren Teams präventiv machen. Allein die Durchführung eines Deeskalationsseminars sorgt für mehr Sicherheit und Selbstbewusstsein. Dadurch können viele Eskalationen verhindert werden. Fast jede vierte Praxis setzt bauliche Maßnahmen um, 15 Prozent vereinbaren laut unserer Umfrage Codewörter. Welche bauliche Maßnahmen und weitere Notfallstrategien effektiv und wichtig sind, kann ich nicht beurteilen. Es macht sicherlich Sinn, sich von Expertinnen und Experten beraten zu lassen.
Wie will sich MEDI als Verband künftig für besseren Schutz und strukturelle Verbesserungen in der ambulanten Versorgung einsetzen? Gibt es bereits konkrete Projekte oder politische Vorstöße?
Auch wir bieten für unsere Praxen Deeskalationsseminare und auch Plakate an, die zu respektvollem Verhalten in der Praxis aufrufen. Aktuell arbeiten wir – als Ergebnis der Umfrage – an einer eigenen Meldeplattform für Gewalt für unsere Mitglieder. Zudem werden wir uns politisch weiter engagieren, was den strafrechtlichen Schutz betrifft.
Was wünschen Sie sich persönlich von Gesellschaft, Politik und Patienten und Patientinnen, um das Miteinander in den Praxen wieder zu stärken und Sicherheit zu gewährleisten?
Ich wünsche mir von allen Seiten mehr Respekt – auch unserer Arbeit gegenüber. Wir niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte übernehmen rund 90 Prozent der gesamten medizinischen Versorgung. Wir geben alle unser Bestes. Die ambulante Versorgungslage ist aktuell kritisch. Ich verstehe die Menschen, die sich ärgern oder besorgt sind, wenn sie keinen zeitnahen Arzttermin bekommen. Als Verband verfügen wir über umfassende Erfahrung mit erfolgreich erprobten Versorgungskonzepten wie den Selektivverträgen, durch die die Versorgungslage nachhaltig und nachweisbar verbessert werden kann. Deshalb wünsche ich mir auch noch mehr Gehör von der Politik. Dass wir Praktikerinnen und Praktiker in Reformvorhaben stärker eingebunden werden. Eine entspanntere Versorgungslage führt auch zu einer besseren Stimmung in der Praxis.